Unsere nationalen Sorgen und die globalen Fragen

Von KLAUS WAZLAWIK, Teilnehmer am Entwicklungspolitischen Runden Tisch für "Demokratie Jetzt"

Das Fortbestehen der Menschheit ist in Frage gestellt. Fast jeder kennt die Gründe:

- wachsende Verelendung für etwa zwei Drittel der Weltbevölkerung; viele Millionen Hungertote,

- Wettrüsten auf konventionellem, atomarem, biologischem und chemischem Gebiet,

- Zerstörung der natürlichen Umwelt durch Verschmutzung von Wasser, Luft und Boden.

Die meisten Politiker wissen:

- jede Minute geben die Länder der Welt 1,8 Millionen US-Dollar für militärische Rüstung aus,

- jede Stunde sterben 1 500 Kinder an Hunger oder durch Hunger verursachte Krankheiten,

- jeden Tag stirbt eine Tier- und Pflanzenart aus,

- mit Ausnahme der Zeit des zweiten Weltkrieges wurden in den 80er Jahren in jeder Woche mehr Menschen verhaftet, gefoltert, ermordet, zur Flucht getrieben oder auf andere Weise durch repressive Regierungen unterdrückt als zu irgendeinem anderen Zeitpunkt in der Geschichte,

- jeden Monat kommen durch das Weltwirtschaftssystem weitere 7,5 Mrd. US-Dollar Schulden zu den 1 500 Mrd. Dollar hinzu, die schon jetzt eine unerträgliche Last für die Menschen in der Dritten Welt sind,

- jedes Jahr wird eine Fläche des Regenwaldes, die 3/4mal so groß ist wie Korea, für alle Zeiten zerstört,

- jedes Jahrzehnt wird der Meeresspiegel auf Grund der allgemeinen Erwärmung der Erde um etwa 1,5 Meter steigen, was für unseren Planeten und besonders für die Küstengebiete katastrophale Folgen haben wird.

Auch den Bürgern unseres Landes könnte dies bekannt sein. Dennoch strebt ein großer Teil der Bevölkerung einen von der Bundesrepublik abgeleiteten Lebensstandard an. Dabei vergessen wir eines: Wollte man unseren gegenwärtigen Lebensstandard auf die Menschen der ganzen Welt übertragen - warum sollte nicht jeder Mensch so leben wie wir jetzt schon? - , so müsste zwei Erdkugeln her. Die Produktion und die Entsorgung, die dann für die Erdbevölkerung notwendig wäre, gestattet eine einzige Erdkugel nicht. Die Weltbevölkerung nimmt jährlich um etwa 100 Millionen Menschen zu. Schon an dieser Zahl lässt sich verstehen: Unser Anspruch an Konsum kann nicht derselbe bleiben. Wir müssen alle viel bescheidener leben.

Eine entscheidende Ursache für die wachsende Verelendung sind die ungerechten Strukturen der Weltwirtschaft. Multinationale Konzerne und Großbanken bestimmen sie. Es ist beschämend, wenn heute jährlich immer mehr Geld aus den armen Ländern in die reichen Länder auf Grund der riesigen Schulden fließt (1989 betrug der Nettotransfer der 2/3-Welt an die reichen Industrienationen 50 Mrd. US-Dollar.)

Wir werden daher mitschuldig an der Ausbeutung der 2/3-Welt wenn gemäß dem Entwurf des Staatsvertrages Großbanken und internationale Konzerne ohne Kontrolle durch das Parlament ihre Geschäfte auch bei uns ausführen können.

Des weiteren muss darauf hingewiesen werden, dass eine Gesellschaftsordnung, deren Lebensfähigkeit vom ständigen Wachstum materieller Güter abhängt, auf Grund der Endlichkeit der Rohstoff- und Naturreserven keine Zukunft besitzt.

Während die ökologische Krise und die Verelendung der 2/3-Welt in beängstigendem Tempo vor sich gehen, in der DDR und einigen osteuropäischen Ländern die Kosten für die Rüstung gesenkt werden, wird in der BRD der höchste Rüstungsetat seit Bestehen dieses Staates geplant.

Ich frage mich: Gegen wen ist dieses riesige Militärpotential gerichtet? Sicherheit in einem Europa kann nicht mehr mit militärischen Mitteln gewonnen werden. Die im Oktober/November 1989 von den Bürgerrechtsbewegungen und einigen Kirchen genannten Zielstellungen

- ökologisches Wirtschaften (Ökologie geht vor Ökonomie),

- Entmilitarisierung der DDR,

- solidarisches Teilen mit den Ausgebeuteten dieser Erde sind keine Zielstellungen für den Staatsvertrag geworden. Ich bitte deshalb die Abgeordneten der Volkskammer vor ihrer Zustimmung, diese globalen Zusammenhänge zu durchdenken und den Staatsvertrag in der vorliegenden Form abzulehnen.

Es besteht immer noch die einzigartige Chance, mit der Aussage "Global denken - lokal handeln" in der DDR Politik zu machen.

Wird sie auf Grund kurzfristiger "Vorteile" eines höheren Wohlstandes für Teile der Bevölkerung der DDR vertan, so werden nachfolgende Generationen die Auswirkungen zu spüren bekommen.

Neues Deutschland, Sa. 26.05.1990, Jahrgang 45, Ausgabe 121, Sozialistische Tageszeitung. Die Redaktion wurde 1956 und 1986 mit dem Karl-Marx-Orden und 1971 mit dem Vaterländischen Verdienstorden in Gold ausgezeichnet.

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