"Böhme war skeptisch über seine Position in der SPD"

Minister Wolfgang Ullmann (Demokratie Jetzt) sieht jenseits des Stasi-Verdachts auch andere Gründe für den Rücktritt

INTERVIEW

Auch einen Tag nach dem überraschenden Rücktritt von Ibrahim Böhme herrscht in der Ostberliner Parteizentrale weiter befremdliche Unklarheit über Aufenthalt und Gesundheitszustand des ehemaligen Vorsitzenden. Der amtierende Parteichef Markus Meckel sagte, er wisse nicht, wo sich Böhme aufhalte, sei aber sicher, "dass er noch krank ist".

Gäste einer SPD-Pressekonferenz registrierten verwundert, dass selbst engste Parteifreunde nach eigenem Bekunden so wenig über das Schicksal Böhmes wussten.

Seit vergangenen Freitag gab es keinen Kontakt zwischen den führenden SPD-Vorständlern und ihrem Ex-Vorsitzenden. So wurde auch der Rücktritt Böhmes ohne persönliche Rücksprache akzeptiert und an die Öffentlichkeit gegeben. Gerüchte, denen zufolge Böhme in den letzten Tagen einen Selbstmordversuch verübt habe, wurden bislang nicht bestätigt.

taz: Herr Minister Ullmann, hat Sie der Rücktritt von Ibrahim Böhme überrascht?

Wolfgang Ullmann: Nein, überrascht hat mich die Entscheidung von Herrn Böhme nicht, aber mir sehr leid getan. Überrascht hat es mich deshalb nicht, weil ich mehrfach Gelegenheit hatte, zu bemerken, dass Ibrahim Böhme sehr skeptisch war gegenüber seiner Position in der Partei und einer zukünftigen Regierungsbeteiligung.

Die Tatsache, dass der Rücktritt Sie nicht überraschte, hat demnach nichts mit dem Verdacht einer Tätigkeit für die Staatssicherheit zu tun?

Nein, ganz und gar nicht.

In der Öffentlichkeit wird der Rücktritt vielfach als Eingeständnis interpretiert, dass an den Beschuldigungen etwas dran ist.

Das scheint mir in hohem Maße einseitig zu sein. Was Herrn Böhme skeptisch gemacht hat, waren ganz andere Dinge: Angriffe gegen seine Person, die im schlimmsten Falle antisemitischen Charakter hatten, die ihn tief getroffen haben. Was neben dieser Belastung sicher für seinen Entschluss mitentscheidend war, ist die Tatsache, dass er, während er Politik gemacht hat, oft sehr viel lieber an seinem Schreibtisch gesessen hätte.

Sie halten es für denkbar, dass der Rücktrittsentschluss mit der naheliegenden Interpretation eines Schuldeingeständnisses nichts zu tun hat?

Ja, wobei natürlich die gegen ihn erhobenen Verdächtigungen sicher eine Rolle gespielt haben. Er ist sich zudem seiner Position in der Partei nicht sicher; ebenso kann ich mir vor dem Hintergrund der sich abzeichnenden großen Koalition gut vorstellen, dass er mit blutendem Herzen miterlebt, was auf die Bevölkerung der DDR zukommt, wenn das Konzept der Kohl-Regierung hier über die DDR-CDU durchgesetzt wird.

Böhme ist oft dafür bewundert worden, wie schnell er den Wechsel aus der marginalisierten Opposition in die Spitze der neuen DDR-Politik scheinbar bruchlos geschafft hat. Leute, die ihn besser kennen, wissen, dass das keinesfalls so glatt gewesen ist. Ein Widerspruch etwa liegt darin, dass er entgegen den Imperativen des Parteikalküls immer wieder auf seine Verwurzelung in der Opposition verwiesen hat. Sowohl das Unbehagen an seiner neuen Rolle als auch die kaum verdeckte Widersprüchlichkeit zwischen den Anforderungen der Parteipolitik und seiner Sympathie für die Opposition - passt das zu den Beschuldigungen, die gegen ihn erhoben werden?

Man muss sich im klaren sein, dass Herr Böhme durch seine extraordinäre Vita jahrzehntelang in einem Milieu gelebt hat, in dem ständig die Staatssicherheit in seiner nächsten Nähe operierte. Wie soll ein Mensch mit der Sensibilität eines Ibrahim Böhme sich da so präsentieren können, dass er am Ende so unbelastet dasteht, wie er das von sich verlangt. So etwas wie die Zusammenarbeit mit der ehemaligen Staatssicherheit erscheint doch komplexer, als man sich das landläufig vorstellt. Es konnte dem vorsichtigsten Menschen passieren, dass er Informationen geliefert hat und es erst hinterher bemerkte.

Welche Relevanz hat für Sie denn überhaupt die Antwort auf die Frage, ob die Beschuldigungen einer Informantentätigkeit von Herrn Böhme zu Recht erhoben werden?

Das will ich ganz klar sagen, und ich denke, das sieht er genauso wie ich: Das wäre mit einer verantwortlichen Abgeordnetenstellung sicher unvereinbar. Das muss klar sein, und darüber gibt es, glaube ich, keine Debatten.

Die Partei hat ja bei dem Rücktrittsvorgang eine eher unrühmliche Rolle gespielt. Sie akzeptierte die schriftlich unterbreitete Entscheidung Böhmes ohne persönliche Rücksprache.

Ich kenne die Vorgänge nicht im einzelnen. Wenn dieses Szenario so stimmt, dann gehört das mit zu den Dingen, die mich an der Politik der SPD in den letzten Tagen und Wochen überhaupt nicht gefreut haben.

Böhme ist kein Freund der großen Koalition. Können Sie sich vorstellen, dass die Tatsache, dass die Koalitionsverhandlungen seit der Niederlegung seiner Ämter doch recht harmonisch verliefen, mitverantwortlich ist für den abrupten Rücktritt?

Das kann ich mir eben sehr gut vorstellen, ohne dass ich damit Interpretationen zu seinem Entschluss liefern will. Aber so wie ich Ibrahim Böhme kenne, liegt mit eine solche Interpretation doch sehr nahe.

Die Beschuldigungen gegen Herrn Böhme und die offensichtliche Unmöglichkeit, einen positiven Unschuldsbeweis zu erbringen, werfen auch ein Licht auf die Schwierigkeiten einer generellen Überprüfung der Abgeordneten, wie Sie sie fordern. Hat das Konsequenzen für Ihre Position in dieser Frage?

Das glaube ich nicht. Man muss hier von Fall zu Fall unterscheiden. Ich glaube, dass der Fall von Ibrahim Böhme doch anders liegt als die meisten. Das hängt auch zusammen mit dem unbürgerlichen oppositionellen Milieu, aus dem er kommt, von dem unsereins doch sehr weit entfernt gelebt hat. Wir haben uns zwar bei Seminaren und anderen Gelegenheiten getroffen - aber: was bin ich für ein Durchschnittsbürger verglichen mit Ibrahim Böhme. In seinem Fall ist es doch zwangsläufig viel komplizierter, Verdachtsmomente auszuräumen.

Sie sehen also angesichts der objektiven Schwierigkeiten, einen Schuld- oder Unschuldsbeweis gegen beziehungsweise für Herrn Böhme zu führen, kein Argument gegen die generelle Abgeordnetenüberprüfung?

Keinesfalls.

Das Gespräch führte Matthias Geis

die tageszeitung, Ausgabe 3075, Mi. 04.04.1990

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