Berlin, 28. 9. 1989
Strafrechtliche Einschätzung
des "Aufruf zur Einmischung in eigener Sache"
Bei dem vorliegenden vorn 12. 9. 1989 datierten "Aufruf handelt es sich um einen zwei Blatt A 4 umfassender Text, in welchem zwölf namentlich genannte Unterzeichner zur Gründung einer Bürgerbewegung "Demokratie jetzt" auffordern und dem als Anlage ein dreiseitiger Text mit der Überschrift "Thesen für eine demokratische Umgestaltung in der DDR" beigefügt ist.
In dem vorliegenden "Aufruf" werden teilweise massiv die gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR angegriffen, wobei sich diese Angriffe besonders gegen die Tätigkeit des sozialistischen Staates, die führende Rolle der Partei der Arbeiterklasse und die sozialistische Demokratie richten und direkte Forderung zur Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse erhoben werden. Dabei wird in diskriminierender Weise ein "Ende der Ära des "Staatssozialismus" und eine "politische Krise des staatssozialistischen Systems" unterstellt sowie behauptet, dass die Kennzeichen der Gesellschaft in der DDR in der "Entmündigung der Bürgerinnen und Bürger"‚ einer "Uniformierung der Gesellschaft" und einem von "Wahlen unabhängigen Machtmonopol" bestände, das nur durch "Wahlfälschungen" geschützt würde.
In den beigefügten "Thesen" werden ebenfalls massiv verfassungsmäßige Grundlagen der sozialistischen Staats- und Gesellschaftsordnung der DDR angegriffen, indem diese unter anderem als ein "von der Partei beherrschter Staat, der sich ohne gesellschaftlichen Auftrag zum Direktor und Lehrmeister des Volkes überhoben hat"‚ diskriminiert und behauptet wird, dass der Staat der "Politbürokratie der Partei und deren ... Ämterpatronage" untergeordnet sei. Des weiteren werden die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse dadurch angegriffen, dass in diskriminierender Weise Forderungen nach Einschränkungen des als "Instrument ideologischer Ausrichtung und Indoktrination" bezeichneten Bildungswesens, nach "Reformierung" des Wahlrechts und Gewährleistung von "Wahlfreiheit und Wahlgeheimnis"‚ nach Wandlung der Medien in "Instrumente freier und öffentlicher Meinungsäußerungen", nach Veränderung der Gewerkschaften, nach Beseitigung der "ideologischen Gängelung" von Wissenschaft‚ Kunst und Kultur u. a. erhoben und eine Veränderung der als "politbürokratische Kommandowirtschaft" diskriminierten ökonomischen Verhältnissen.
Zusammenfassend ist einzuschätzen, dass die vorliegenden Schriften durch die darin enthaltenen Diskriminierungen der gesellschaftlichen Verhältnisse die verfassungsmäßigen Grundlagen der sozialistischen Machts- und Gesellschaftsordnung der DDR angreifen und damit objektiv Schriften im Sinne des § 106 Absatz 1 Ziff. 1 StGB darstellen.
Werden derartigen Schriften mit dem Vorsatz, die verfassungsmäßigen Grundlagen anzugreifen oder gegen diese aufzuwiegeln, hergestellt oder verbreitet, begründen diese Handlungen strafrechtliche Verantwortlichkeiten wegen staatsfeindlicher Hetze.
Darüber hinaus stellt eine Weitergabe dieser Texte ohne den Hinweis eines derartigen Vorsatzes gemäß § 4 Absatz 2 OWVO die Verbreitung von gegen die Gesetze und anderer Rechtsvorschriften gerichteten Erklärungen dar und kann dementsprechend als Ordnungswidrigkeit verfolgt und mit Geldstrafe bis 500,-- Mark, im schweren Fall bis 1 000,-- Mark belegt werden.
Bei Sicherstellung derartiger Schriften ist auf der Grundlage des § 13 Absatz 4 des VP-Gesetzes deren sofortige Einziehung möglich.
[§ 106. Staatsfeindliche Hetze.
(1) Wer mit dem Ziel, die sozialistische Staats- oder Gesellschaftsordnung der Deutschen Demokratischen Republik zu schädigen oder gegen sie aufzuwiegeln,
1. Schriften, Gegenstände oder Symbole, die die staatlichen, politischen, ökonomischen oder anderen gesellschaftlichen Verhältnisse der Deutschen Demokratischen Republik diskriminieren, einführt, herstellt, verbreitet oder anbringt;
2. Verbrechen gegen den Staat androht oder dazu auffordert, Widerstand gegen die sozialistische Staats- oder Gesellschaftsordnung der Deutschen Demokratischen Republik zu leisten;
3. Repräsentanten oder andere Bürger der Deutschen Demokratischen Republik oder die Tätigkeit staatlicher oder gesellschaftlicher Organe und Einrichtungen diskriminiert;
4. den Faschismus oder Militarismus verherrlicht, wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu fünf Jahren bestraft.
(2) Wer zur Durchführung des Verbrechens Publikationsorgane oder Einrichtungen benutzt, die einen Kampf gegen die Deutsche Demokratische Republik führen oder das Verbrechen im Auftrage derartiger Einrichtungen oder planmäßig durchführt, wird mit Freiheitsstrafe von zwei bis zu zehn Jahren bestraft.
(3) Im Fall des Absatzes 1 Ziffer 3 ist der Versuch, in allen anderen Fällen sind Vorbereitung und Versuch strafbar.
OWVO - Ordnungswidrigkeitenverordnung]