Ein breites Bündnis für gesamtdeutsche Wahlen

Plädoyer für ein Zusammengehen ökologischer und bürgerbewegter Kräfte/Politische Lobby auch für die Völker Osteuropas

Der deutsche Einigungsprozess nötigt das gesamte Spektrum von alternativen Gruppen, politischen Vereinigungen bzw. Bürgerbewegungen, von ökologischen Initiativen bis hin zur Grünen Partei, aber auch solche starken Vereine wie die Humanistische Union oder das Komitee für Grundrechte und Demokratie, ihre jeweiligen Politikansätze aufeinander zu beziehen. Dies fällt nicht leicht, weil die einzelnen Gruppierungen jeweils das Besondere im politischen Prozess gegenüber dem allgemeinen Ziel der Ansprechbarkeit beim Wähler um fast jeden Preis, wie es den großen Wahlparteien Union und SPD eigen ist, betonen. Es wäre der Untergang dieser Gruppen, wenn sie unter dem Druck gesamtdeutscher Wahlen eiligst zusammenwuchern würden und unter flottem Etikett den Joker im Machtkampf ergattern wollten. Andererseits ist es auch um ihre Wirksamkeit im 80-Millionen-Volk schlecht bestellt, wenn sie jetzt nicht wirksam nach außen hin kooperieren. Wir brauchen also zunächst eine Plattform und Kommunikationsebene, aber keinesfalls Uniformität und Parteienzwang. Jetzt gilt es, dem Zeitdruck standzuhalten, also ein großes Bündnis für die anstehenden gesamtdeutschen Wahlen einzugehen. Eine solche Panne wie bei den Verhandlungen zwischen Bündnis '90 und den Bürgerbewegungen würde das alternative Spektrum gesamtdeutsch unter 5 Prozent rangieren lassen. (...)

Die Zeichen stehen nicht ungünstig für ein breites Bündnis von Grünen, Bürgerbewegungen und anderen Initiativen, denn sowohl die Kommunalwahlen in der DDR als auch die Landtagswahlen in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen haben gezeigt, dass die Wähler eine ökologische Alternative zum Industriesystem und eine unmittelbare Bürgervertretung im repräsentativen System erhalten möchten.

Nun haben unter rechtlichem Gesichtspunkt die Bürgerbewegungen der DDR keine gute Chance in einem Gesamtdeutschland. Sie werden in der DDR als politische Vereinigungen definiert, die den Parteien rechtlich gleichgestellt sind. Diese Rechtsfigur wurde schon in der DDR gegen den Widerstand von CDU und SPD am Runden Tisch durchgesetzt.

Es ist kaum zu erwarten, dass SPD und CDU auf gesamtdeutscher Ebene den Bürgerbewegungen im repräsentativen System eine Chance geben wollen. Das Interesse an der Arbeit der Bürgerbewegungen unter den Menschen im Westen ist aber beachtlich. Daher sollten die Bürgerbewegungen trotz des auf uns zukommenden rigiden Parteien-Einheitsstaates ihren Strukturansatz mit politischem Anspruch auch gesamtdeutsch etablieren.

Nüchtern betrachtet, wird es kein Wahlrecht geben, das den Bürgerbewegungen eine Chance lässt, über die Kommunen hinaus im Parlament eine Kontrollfunktion auszuüben und gegebenenfalls zu regieren. Die Bürgerbewegungen stehen und fallen aber mit dem Anspruch, Basisdemokratie auch im repräsentativen System auf allen Ebenen zur Geltung zu bringen. Sie sind darauf angewiesen, auch in einem gesamtdeutschen Parlament vertreten zu sein. Es besteht die Gefahr, dass zu Zeiten großer politischer Themen auch nur die großen politischen Parteien, die sogenannten Volksparteien, ins Parlament kommen. Aus dieser Sicht sind sowohl die Bürgerbewegungen wie auch die Grünen, aber auch andere, diesen Gruppierungen nahestehende Vereine und Initiativen aufeinander angewiesen. Durch die Spitzenkandidatur von Oskar Lafontaine für die SPD, die im öffentlichen Bewusstsein für soziale Konsequenz und Durchhaltevermögen in komplizierten Zeiten steht, ist es notwendig, sich gegenüber den sozialdemokratischen Positionen klar zu profilieren.

Sozialistische Positionen

Aus meiner Sicht sind weder bei den Grünen noch in den Bürgerbewegungen sozialistische Positionen ursprünglich handlungsanleitend. Die Kritik am Industriesystem im Westen und der Despotie im Osten hat im problembewussten Bürgerprotest und nicht in einem bestimmten Ideologiekonzept ihren eigentlichen Ursprung. Andererseits gehören sozialistische Positionen in dieses politische Spektrum hinein und müssen akzeptiert werden, sofern sie das Mehrheitsprinzip, die Rechtsstaatlichkeit und die Prämissen von Ökologie und nicht parteikonformer Wahrnehmung der Bürgerverantwortung als handlungsleitend akzeptieren. Programmatisch gesehen stehen diese Positionen der linken Sozialdemokratie und den Jungsozialisten nahe. Auch das Berliner Programm der SPD hält den demokratischen Sozialismus für erstrebenswert, freilich ohne sich näher darauf einzulassen. Die Sozialisten im alternativen Spektrum sollten in Auseinandersetzung mit den Sozialdemokraten ihre Vorstellungen als reale Lösungsvarianten in der modernen Industriegesellschaft formulieren. Hier, nämlich in der Differenz von Programmatik und in der Sache oft wackligen und nach Mehrheiten schielenden Tagespolitik, ist die SPD zu treffen.

Sollten Sozialisten im alternativen Spektrum sich auch nur ansatzweise mit der PDS verbinden, verlassen sie die bürgernahen und ökologischen Grundsätze für ein künftiges gesamtdeutsches Bündnis und lassen sich auf nachstalinistische Programmvorstellungen und Strukturen (von den Genossen auf unterer und mittlerer Ebene will ich hier nicht reden) ein.

Die PDS usurpiert schon in ihrem Namen als Partei ein Gesellschaftskonzept, das es allen Bürgern überlassen sollte, es sich zu eigen zu machen oder nicht. Diese Ismus-Partei ist eine Rache des lange nachwirkenden Stalinismus gerade gegenüber behutsamen Politikvorstellungen auf dem Weg zu einem demokratischen Sozialismus. Es sollte sogar ein Ziel eines gesamtdeutschen grün-bürgerbewegten Bündnisses sein, diese Partei mit demokratischen Mitteln zurückzudrängen und in der Auseinandersetzung mit der Sozialdemokratie eine ökologische und basisdemokratische Alternative zu entwickeln, die gegenüber Vorstellungen von einem demokratischen Sozialismus offen ist und dies im Unterschied zu den Sozialdemokraten auch im Wahlkampf nicht verleugnet.

Koordinationsrat

Politikgestaltung aus dem breiten Spektrum heraus, das den 68er Aufbruch verbindet mit den Erfahrungen aus der Friedens -, ökologischen, Frauen- und Menschenrechtsbewegung sowie den demokratischen Bürgerbewegungen des Jahres 1989, braucht einen handlungsfähigen Rahmen, nicht einen Vorsitzenden, sondern einen Rat, zum Beispiel einen paritätisch besetzten Koordinationsrat. Über die Mitwirkung sollte die Basis der jeweiligen Vereinigung entscheiden. Das Ziel eines solchen Rates sollte es sein, ein breites Bündnis, eine grün-bürgerbewegte Liste auszuhandeln. Die Erfahrungen in der DDR lassen eindeutig erkennen, dass sich große Hoffnungen auf breite Bündnisse richten, wenn sie nicht zerredet werden und eine klare politische Zielstellung entwickeln. Der Einbruch der Sozialdemokraten in der DDR hat seine Ursache im stillschweigenden Verlassen eines ursprünglich beabsichtigten Bündnisses.

Die Sozialdemokraten haben sich Anfang Januar 1990 für die Allianz geöffnet, weil sie die Fiktion einer Volkspartei dem Wahlkampf neuer Bewegungen und Parteien gegen alte Blockstrukturen vorzogen. Es wird den Sozialdemokraten im Osten noch viele Jahre anhängen, dass sie sich von der Bonner Partei haben instrumentalisieren lassen und so der West-CDU den nun nicht mehr kritisch betrachteten Einstieg in die Block-CDU ermöglichten. Aus diesem Debakel der anderen müssen die Ökologisch-Bürgerbewegten die richtigen Konsequenzen ziehen.

Die West-Grünen täten gut daran, das besondere politische Profil der Bürgerbewegungen und der Ost-Grünen (einschließlich Grüner Liga) in einem gesamtdeutschen Bündnis zu stärken. Damit würden sie das Erbe des revolutionären Herbstes aufnehmen. Andererseits sollten die DDR-Bürgerbewegungen erkennen, dass sich ihr Ansatz mit der Beantwortung globaler Grundfragen (Ökologie, Europa- und Entwicklungspolitik) verbinden muss.

Demokratie und Bürgernähe gibt es nicht an sich, sondern nur in konkreten Zusammenhängen. Es könnte gerade einen politischen Durchbruch für das Bündnis bewirken, wenn es sich Europa-politisch definiert... Denn die qualitative und geographische Verlagerung des Ost-West-Problems ruft nach einer politischen Lobby für die bedrängten Völker östlich von Oder und Neiße. (...) Verbinden wir ein gesamtdeutsches Bündnis mit dem Anliegen der osteuropäischen ökologischen und Bürgerrechtsbewegungen, so wächst das Bündnis zur wählbaren Alternative gegenüber den etablierten, ach so deutschen Aufschwungparteien!

Stephan Bickhardt, Geschäftsführer von Demokratie Jetzt

aus: TAZ Nr. 3115 vom 25.05.1990

Ergänzung

betr.: "Ein breites Bündnis für gesamtdeutsche Wahlen", taz vom 25.5.90

Ich bin sehr verärgert darüber, dass die Redaktion diesen Text sinnentstellend gekürzt hat. Der ganze Abschnitt, in dem ich begründe, warum aus meiner Sicht die Vereinigte Linke am wenigsten in ein gesamtdeutsches grün-bürgerbewegtes Bündnis hineingehört, ist herausgestrichen worden. Damit fehlt dem Text die kritische Zuspitzung, da ich mich ja andererseits aus inhaltlichen Gründen der Perspektive eines demokratischen Sozialismus nicht verschließe.

Stephan Bickhardt, Geschäftsführer, Demokratie Jetzt, Berlin DDR

Anmerkung der Red: Für InteressentInnen dokumentieren wir im Folgenden den letzten Absatz des Artikels, der bedauerlicherweise einer Kürzung zum Opfer fiel:

"In diesen Tagen hat sich der Bundesvorstand der Grünen bei den Bürgerbewegungen, Grünen und in anderen Initiativen der DDR zum Gespräch angesagt - eine Gelegenheit über die Notwendigkeit eines Koordinierungsrates zu diskutieren. Ein neuralgischer Punkt in den kommenden Monaten wird sein, ob die Vereinigten Linken zu dem hier beschriebenen Spektrum hinzugehören, jedenfalls für die Basis der Gruppierungen des Bündnis 90. Die Vereinigte Linke (was und wer vereinigt sich hier programmatisch und personell?) eher laut in SED-Abrechnern der PDS, denn dem Bündnis 90 oder den Grünen nahezustehen. Vielleicht war die gemeinsame Liste mit dem ex-SED-nahen Demokratischen Frauenbund zu den jüngsten Kommunalwahlen ein Vorverweis auf eine kommunale Kandidatur auf der PDS-Liste. Eine klare Selbstbeschreibung dieser Gruppierung steht aus. Die Bürgerbewegung Demokratie Jetzt wird sich bezüglich der VL jedenfalls nicht mit halben Erklärungen oder kaum endenwollenden Debatten, wie bei den Vorgesprächen zum Bündnis 90 anfreunden können. Kein Zweifel: Wir werden auch zukünftig den Bündnisgedanken mit der Suche nach konsensfähigen Positionen kultivieren und praktisch umsetzen.

Vielleicht hören wir schon bald davon: Grünes Forum, Grünes Bürgerbündnis, Grüne Bürgerunion...

aus: TAZ Nr. 3128 vom 11.06.1990

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