Zeit der Bürgerbewegungen

BZ sprach mit einem Vertretender Initiatorengruppe von Demokratie Jetzt

Mit dem Sprachdozenten und Pfarrer Dr. Wolfgang Ullmann, Sprecher der Initiativgruppe von Demokratie Jetzt, sprach BZ über Entstehung, Anliegen und Konzepte dieser Bürgerbewegung.

BZ: Demokratie Jetzt - diese Bürgerbewegung gehört zu den älteren unter den Neuen. Trügt der Schein, oder verzichten sie ganz gerne auf spektakuläre Aktionen, steuert lieber Gedanken zum Prozess der Demokratisierung unseres Landes bei?

Dr. Ullmann: Das könnte schon so sein, war es anfangs doch vor allem eine Gruppe von Wissenschaftlern und Künstlern, sozusagen eine intellektuelle Vordenkertruppe, die sich zusammenfand. Zu unseren Wurzeln gehört die Friedensbibliothek der Berliner Bartholomäus-Gemeinde. Bereits in Frühjahr 1987 haben wir in dem Positionspapier "Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung" Reisefreiheit für alle DDR-Bürger gefordert.

Aus dem Rahmen der Kirche herauszutreten, beschlossen wir erst in diesem Spätsommer, als sich die innenpolitische Krise zuspitzte. Wir wandten uns sofort an alle Bürger - mit der Forderung "Demokratie jetzt", mit einem dieser Forderungen thematisierenden politischen Programm für unsere Bürgerbewegung.

BZ: Sie sagen Bürgerbewegung - bleibt das ihr Selbstverständnis, oder will Demokratie Jetzt sich einreihen in die Vielzahl derzeit entstehender Parteien?

Dr. Ullmann: Die vergangenen 40 Jahre haben mir bewiesen, dass politische Parteien nicht ausreichen. Ich sehe sie als Organisationsform aus dem vergangenen Jahrhundert. Jetzt ist die Zeit der Bürgerbewegungen, denn politische Willensbildung ist nicht mehr möglich ohne basisdemokratische Bürgerbewegung. Und die wollen wir sein.

BZ: Wie soll denn - im Unterschied zu einer Partei - Demokratie Jetzt als Bürgerbewegung arbeiten, wirksam arbeiten?

Dr. Ullmann: Parteien werden von Programm und Statut zusammengehalten, unser Zusammenhalt ist das Thema. Das politische Ziel - die entschiedene Demokratisierung unseres Landes - betrachten wir als unser Integrationselement. Daraus leitet sich die Verantwortung unserer Bewegung ab, deren Gruppen sich selbstständig im ganzen Land organisieren.

Viele müssen erst lernen, so zu arbeiten. Noch fragen die Mitglieder, was kommt denn nun aus der "Zentrale", sie warten auf Anweisungen. Unsere Strukturen sollen aber vor allem Informationswege sein. Diese Form der Arbeit ohne horizontale Gliederung ist natürlich schwierig.

BZ: Besteht nicht die Gefahr, dass Gruppen oder einzelne Mitglieder immer mal wieder an den entgegengesetzten Enden desselben Seiles ziehen?

Dr. Ullmann: Unsere Zeitung soll helfen, das zu verhindern. Vorerst ist sie nur ein A-4-Blatt und erscheint nicht ganz regelmäßig, einmal wöchentlich. Das entspricht ganz unserem merkwürdigen Zwischenzustand, offiziell anerkannt zu sein, aber vorrangig auf private Anlaufpunkte gestützt zu arbeiten.

BZ: Ihrem Ruf als Vordenkertruppe ist Demokratie Jetzt auch damit gerecht geworden, dass sie den Vorschlag für einen Runden Tisch erarbeitet und öffentlich gemacht hat . . .

Dr. Ullmann: Das war natürlich nicht gedacht, um unserm Ruf zu bestätigen. Wir sind ernstlich besorgt über die Destabilisierungserscheinungen in unserem Lande. Durch die katastrophale wirtschaftliche Lage verschärfen sich die politischen Probleme. Viele Menschen fühlen sich verunsichert. Als Stabilisierungsmaßnahmen sehen wir unter diesen Bedingungen eben den Runden Tisch sowie Bürgerkomitees und Sicherheitspartnerschaften z.B. mit der Polizei.

Für den Runden Tisch haben wir einen langen Themenkatalog erarbeitet. Er reicht von der Wirtschaft über die Ökologie bis hin zu Bildungs- und Medienpolitik sowie Jugend-, Frauen-, Ausländerfragen. Bei den ersten Treffen hatten wir allerdings das Gefühl, von der Modrow-Regierung nicht ernst genug genommen zu werden.

BZ: Das Wort Wirtschaftsreform ist in aller Munde, es gibt viele Vorstellungen, wenig konkrete, sachlich fundierte Konzepte. Mit welchen tritt Demokratie Jetzt an?

Dr. Ullmann: Zuerst - wir sehen eine echte Chance für unser Land, erfolgreich einen eigenen Weg zu finden. Durch einen Anfang auf einem niedrigeren wirtschaftlichen Niveau als die BRD und durch die ernsthafte Ausrichtung auf die Ökologie. Die Effektivierung der Wirtschaft darf nur im Einklang mit ökologischen Erfordernissen durchgesetzt werden.

Bei wirklicher Dynamisierung und Effektivierung geht es wohl nicht ohne kurzzeitige Arbeitslosigkeit. Notwendig sind darum flankierende Sozialmaßnahmen. Ebenso wie der Ausgleich sozialer Härten, die durch neue Preisregelungen und Änderungen der Subventionspolitik entstehen würden.

BZ: Worin liegt nach Ihrer Meinung denn die Chance für unser Land?

Dr. Ullmann: In unsern gewaltigen Potenzen an Originalität und Erfindungskraft. Aber nur, wenn wir lernten, aktiver zu sein, besser zu arbeiten. Das Vorsichhinschlampampern ist ja in jeder Beziehung vorbei.

BZ: Da sind Problemlösungen angedeutet, die sicher nicht nur Befürworter finden, vielleicht auf handfeste Kritik stoßen werden.

Dr. Ullmann: Wir sind darauf eingestellt, mit Kritik zu leben, damit umzugehen. Das ist natürlich ein Lernprozess. Die DDR-Oppositionellen sind gewöhnt, dass man sie - vor allem in der westlichen Welt - als Helden bestaunt. Viele haben Opfer gebracht und verdienen wirklich Respekt. Aber es wird in wachsendem Maße nicht mehr nach moralischem Maßstab geurteilt werden müssen, sondern nach Sachkompetenz.

Alle, auch die Medien, sollten uns kritische Fragen stellen, uns kritisch werten. Das ist ja gerade der Sinn des politischen Lebens.

Das Gespräch führte
Bettina Urbanski

aus: Berliner Zeitung, Nr. 305, 29.12.1989, 45. Jahrgang. Die Redaktion wurde mit dem Karl-Marx-Orden, dem Vaterländischen Verdienstorden in Gold und dem Orden "Banner der Arbeit" ausgezeichnet.

Δ nach oben