Grundzüge der Arbeits- und Sozialordnung in einem geeinten Deutschland

I.

Die Vereinigung beider deutscher Staaten ist Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts der Menschen. Der Deutsche Gewerkschaftsbund unterstützt dieses Ziel. Er geht davon aus, dass die gesellschaftliche Ordnung eines zukünftigen geeinten Deutschlands das Ergebnis freier, demokratischer Entscheidungen der Menschen in beiden deutschen Staaten sein wird.

Mit dem Prozess der Einigung muss eine Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung für ganz Deutschland entstehen, in der das Sozialstaatsgebot mit Leben erfüllt ist. Die wichtigsten sozialen Grundrechte müssen Verfassungsrang erhalten.

II.

Eine künftige gesamtdeutsche Arbeits- und Sozialordnung m mindestens die folgenden Elemente umfassen:

1. Rechts auf Arbeit

Das Recht auf Arbeit ist ein soziales Grundrecht mit Verfassungsrang. Es muss durch eine konsequente Vollbeschäftigungspolitik verwirklicht werden. Das Recht auf Arbeit schließt den Schutz vor unwürdiger oder willkürlicher Behandlung und den Schutz der Persönlichkeit der Beschäftigten ein. Eine Kündigung ohne triftigen Grund muss ebenso wie die Leiharbeit und die gewerbsmäßige Arbeitsvermittlung ausgeschlossen sein. Befristete Arbeitsverträge dürfen nur aus sachlich gerechtfertigten Gründen zulässig sein. Arbeit zu ungünstigen Zeiten - z. B. Wochenend-, Schicht- oder Nachtarbeit - ist auf das notwendige Maß zu begrenzen. Jugendliche so wie Behinderte und andere benachteiligte Personengruppen sind in besonderem Maße zu schützen. Ein einheitlicher Arbeitnehmerstatus muss geschaffen werden, auch für den öffentlichen Dienst, so dass nicht mehr zwischen den herkömmlichen Arbeitnehmergruppen unterschieden wird. Auch ausländische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer müssen arbeits- und sozialrechtlich gleichgestellt werden.

2. Koalitionsfreiheit und Koalitionsrechte

Alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben das Recht, sich zu Gewerkschaften zusammenzuschließen. Jede mit einer Gewerkschaftsmitgliedschaft verbundene muss verboten werden. Die Autonomie der Gewerkschaften sowie die Tarifhoheit durch Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände bzw. Arbeitgeber müssen verfassungsrechtlich garantiert werden. Dies gilt auch für den gesamten öffentlichen Dienst.

Jede Form des staatlichen Eingriffes, die Aussetzung von Arbeitskampfmaßnahmen und jede Form der Zwangsschlichtung ist auszuschließen. Der Einsatz von Beamten auf Arbeitsplätzen von streikenden Arbeitern oder Angestellten ist zu untersagen. Tarifvertragliche Rechte dürfen nur zu Gunsten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vertraglich verändert werden.

Das Streikrecht muss gewährleistet und darf nicht eingeschränkt werden. Die Aussperrung muss verboten werden. Die Gewerkschaften haben das Recht, sich im Betrieb zu betätigen, über ihre Tätigkeit zu informieren und neue Mitglieder zu werben.

3. Umweltschutz

Der Schutz der Umwelt muss den Rang eines zwingenden Auftrags der Verfassung erhalten. Dies erfordert die konsequente Weiterentwicklung umweltpolitischer Normen und deren Vollzug mit dem Ziel, eine ökologisch verträgliche Gesellschaft zu schaffen.

4. Menschenwürdige Arbeitsbedingungen

Arbeitsbedingte Gesundheitsgefahren müssen konsequent vermieden oder abgebaut werden. Arbeitsstätten, Arbeitsmittel, Arbeitsverfahren und Arbeitsabläufe sowie die Dauer und Lage der Arbeitszeit müssen sicher und gesundheitsförderlich gestaltet werden.

5. Gleichberechtigung von Frauen und Männern

Die Gleichstellung von Frauen und Männern muss staatliche Aufgabe mit Verfassungsrang sein. Männer und Frauen müssen auch im Arbeitsleben gleichberechtigt sein. Jede Diskriminierung von Frauen ist zu verbieten Der formal bestehende Gleichheitsgrundsatz muss durch gezielte gesetzliche Regelungen und Politische Maßnahmen auch faktisch verwirklicht werden. Erwerbstätige Mütter und Väter sind durch die Gewährung von bezahltem Elternurlaub oder vorübergehend reduzierter Arbeitszeit und durch Kündigungsschutz besonders unter Schutz zu stellen. Ihnen muss bedarfsdeckendes qualitativ hochwertiges Angebot an Kindergrippen sowie an Kindergärten und -tagesstätten zur Verfügung stehen.

6. Mitbestimmung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und Vermögensbeteiligung

Die Demokratie im politischen Bereich muss durch die Demokratisierung der Wirtschaft ergänzt werden. Hierzu gehören insbesondere die Mitbestimmung am Arbeitsplatz, verbesserte Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte auf betrieblicher Ebene, die qualifizierte Mitbestimmung auf der Unternehmensebene sowie gesamtwirtschaftliche Mitbestimmungsrechte.

Die Interessenvertretung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den Betrieben und den Verwaltungen muss auf der Grundlage eines modernen Betriebsverfassungsrechtes entsprechend der Grundvorschläge des DGB erfolgen. Durch sie werden bessere Voraussetzungen für eine wirksame Interessenvertretung geschaffen. Für die Mitbestimmung im Unternehmen ist der Gesetzentwurf des DGB zur Mitbestimmung der Arbeitnehmer in Großunternehmen der zentrale Orientierungspunkt. Auch in der Übergangszeit dürfen in der DDR keine mitbestimmungsfreien Bereiche bestehen.

Alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer müssen darüber hinaus am Produktivvermögen beteiligt werden.

7. Soziale Sicherheit

Alle Menschen müssen grundsätzlich das Recht auf Teilhabe an sozialen Sicherungssystemen haben.

Diese müssen alle notwendigen Maßnahmen zum Schutz, zur Besserung oder zur Wiederherstellung der Gesundheit und der Leistungsfähigkeit gewährleisten und eine dem allgemeinen Lebensstandard angemessene materielle Sicherung bei Krankheit, Mutterschaft, einer reduzierten Erwerbsfähigkeit, im Alter und bei Arbeitslosigkeit garantieren.

8. Recht auf Wohnen

Für alle Menschen ist Wohnen eine zentrale Voraussetzung für eine menschenwürdige Existenz. Darum muss ein ausreichendes und preiswertes Wohnraumangebot zur Verfügung gestellt und den Mietern durch das Grundrecht auf Wohnen die Angst vor Kündigungen genommen werden.

9. Recht auf Bildung und Berufsbildung

Alle Menschen haben ein Recht auf Bildung. Dies erfordert ein integriertes Schulwesen, das alle Kinder und Jugendliche fördert und dazu befähigt, als Erwachsener ein eigenständiges Leben zu führen und in Politik und Wirtschaft mitentscheiden zu können. Darüber hinaus muss sichergestellt werden, dass alle Jugendlichen eine qualifizierte Berufsausbildung im Betrieb, in Schulen oder Hochschulen absolvieren können. Alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer müssen einen Anspruch auf berufliche Weiterbildung sowie ein Recht auf bezahlten Bildungsurlaub erhalten, der auch eine allgemeine und politische Weiterbildung ermöglicht.

10. Gleichwertige Arbeits- und Lebensbedingungen

Ein seine Verantwortung wahrnehmender Sozialstaat muss für alle Regionen gleichwertige Arbeits- und Lebensbedingungen und ein ausreichendes und preiswertes Angebot an öffentlichen Gütern und Dienstleistungen schaffen. Er muss seine Steuer-, Finanz- und Sozialpolitik so ausrichten, dass ein Höchstmaß an sozialer Gerechtigkeit erreicht wird.

Bei der Ausfüllung dieser sozialen Grundrechte müssen selbstverständlich auch internationale Arbeitsnormen - wie die der Internationalen Arbeitsorganisation oder der Sozialcharta des Europarates - eingehalten werden.

(Beschluss des Bundesvorstandes des Deutschen Gewerkschaftsbundes am 18. 4. 1990)

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