Friedrich Schorlemmer, Demokratischer Aufbruch:

(mit Beifall begrüßt)

Ich komme aus dem Demokratischen Aufbruch der DDR durch die durchbrochene Mauer und suche mit anderen die nun endlich gegebene Chance wahrzunehmen, mit unseren eigenen Erfahrungen, auch mit unseren Blessuren, mit unseren eigenen Bedingungen den eigenen Versuch zu machen, eine ökosoziale Demokratie zu entwickeln.

Wir brauchen eine Hilfe, eine Hilfe, die uns aber Handlungsfreiheit lässt.

(Beifall)

Wir brauchen Zeit und haben kaum Zeit. Wir sind noch mitten in Selbstklärungsprozessen.

Ich möchte sie bitten: Lassen sie uns auch die Zeit. Wir haben erst ungefähr acht Wochen, in denen dieser Prozess wirklich frei passieren kann. Wir brauchen auch in der Opposition noch Selbstklärung. Wir brauchen noch Strukturen; wir brauchen noch Erfahrung und Kompetenz. Wir brauchen Zeit.

Ich habe den Eindruck, dass dieser Parteitag der SPD begriffen hat, dass wir unseren eigenen Weg gehen wollen, und dass sie uns dabei helfen und uns nicht in den Schwitzkasten nehmen.

(Beifall)

Um nun vorschnelle gesamtdeutsche Emotionen und Sehnsüchte nicht ausufern zu lassen und um auf der Straße fahnenschwenkend nicht zu verlieren, was wir an politischer Rationalität mühsam uns erworben haben, brauchen wir in der DDR das Vertrauen, dass es bei uns aufwärts geht und dass der deutsche Einigungsprozess im europäischen Einigungsprozess weitergeht und spürbar wird. Wir haben doch nicht jahrelang für die Demokratisierung in der DDR gekämpft, um sie nun einfach in einem Anschlussverfahren an die Bundesrepublik aufgehen zu lassen.

(Beifall)

Deshalb bin ich glücklich über den gestrigen Beschluss, über die Berliner Erklärung "Die Deutschen in Europa" und über die Rede Oskar Lafontaines,

(Beifall)

über die klare und konkrete Option für die eine Nation, für eine Konföderation, wie sie gestern beschlossen worden ist. Das halte ich wirklich für hilfreich.

Gestatten sie mir noch drei konkrete Anmerkungen. Das Konzept der "Gemeinsamen Sicherheit" hat uns in Europa ermöglicht, dass wir zu einer solchen Entspannung zwischen Ost und West gekommen sind. Ich denke, dass wir dieses Konzept der Gemeinsamen Sicherheit nun auf die deutsch-deutschen Beziehungen konkret übertragen können. Wenn die Bundesrepublik uns hilft, hilft sie sich selbst. Das Ausmaß des Fluchtschadens, des Aderlasses unersetzbarer Menschen für das tägliche Leben der DDR wird unermesslich: die Angst der Alten, wenn die Jungen gehen, die Angst der Kranken, wenn die Ärzte gehen, nachdem sie die Operation gemacht haben. Am nächsten Tag ist der Chirurg nicht mehr da. Können sie sich vorstellen, was das für Leid auslöst, für Ängste.

(Zwischenruf: Was sind das für Ärzte!)

Ja, sie haben recht.

(Beifall)

Bei uns gibt es zu wenige Menschen, die die nötige Arbeit machen, und bei euch gibt es immer mehr Arbeitslosigkeit und die Ausländerfeindlichkeit dazu.

(Beifall)

Ihr platzt aus den Nähten, bei uns droht alles zusammenzubrechen. Ihr müsst immer noch mehr neue Häuser bauen, und bei uns verfallen viele schöne alte.

(Beifall)

Also: Wenn ihr uns helft, helft ihr euch selbst.

(Beifall)

Die ökologische Giftküche DDR zu entgiften liegt auch im Interesse der Bundesrepublik.

(Beifall)

Die Bürger in der DDR brauchen jetzt das Vertrauen, dass es sich lohnt, als Deutscher in der DDR zu bleiben und mitzuwirken - nach Jahren von soviel Demütigung und Vergeblichkeit, nach soviel Selbstwertverlust und Perspektivlosigkeit.

Nun noch zwei kritische Anfragen: Ich habe es menschlich und sachlich nicht erstanden, warum die SPD sich einer endlich sich reformierenden SED so verweigert.

(Beifall)

Ich habe es menschlich und sachlich nicht verstanden. Da suchen doch einige sehr redlich, diesen Haufen zu reinigen, und denen zeigen sie jetzt ausgerechnet die kalte Schulter. Das mag populär sein, ist aber, glaube ich, nicht gut.

(Erneuter Beifall)

Wollen sie dazu beitragen, dass die Reformer, die ehrlichen Reformer, die es doch dort auch gibt, isoliert werden? Wir brauchen auch diese Leute bei der Lösung der immensen Probleme. Wir brauchen auch die Leute, die die SED reinigen. Wir brauchen die selbst gereinigte SED, die doch glücklicherweise nicht die stalinistischen Methoden anwendet. Galt nicht auch in der SPD Hans Modrow als Hoffnungsträger? Und hat nicht Berghofer erheblichen persönlichen Anteil am friedlichen Verlauf der Revolution? Nicht nur die vielen Menschen, auch solche Leute wie Berghofer haben erheblichen Anteil am friedlichen Verlauf der Revolution und an der Eröffnung des Dialogs und des Herbeiführens von Strukturen der Demokratie.

(Beifall)

Also ich denke, sie haben das Gespräch verdient.

Das letzte: Die Regierung Modrow ist nicht demokratisch legitimiert: Aber sie ist handlungsfähig. Wenn die Übergangsregierung Modrow den Übergang in die Demokratie vorbereitet und bis dahin die nötigen Amtsgeschäfte führt, den Runden Tisch und seine Ergebnisse in die eigenen Entscheidungen einbezieht, dann ist alles bedenklich, was ihre Arbeitsfähigkeit in unserem Land, auch von außerhalb, unterminiert.

(Beifall)

Die friedliche Revolution in der DDR - täuschen wir uns bitte nicht! - ist nicht beendet, sondern in einer kritischen Phase. Die Gefahr ist nun aus meiner Sicht nicht die Erstarrung, sondern ein gefährliches Machtvakuum. So ist es richtig, der DDR, den Menschen der DDR jetzt schon zu helfen, auch unter dieser Regierung. Dazu möchte ich die SPD ermutigen. - Danke.

(Beifall)

Protokoll vom Programm-Parteitag Berlin 18.-20.12.1989. Herausgeber: Vorstand der SPD Bonn

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