Junge-Welt-Gespräch mit Pfarrer Rainer Eppelmann, Berlin


Das "Vorläufige Programm" des Demokratischen Aufbruchs: demokratisch, ökologisch, sozial und gewaltfrei. Die Partei rechnet bei einer Wahl mit zweistelligem Ergebnis. Die DDR hat unter gegenwärtigen Bedingungen noch sechs Monate Zeit, dann ist sie ausgeblutet. Wir brauchen eine "Große Koalition der innenpolitischen Vernunft". Eine zweite kapitalistische deutsche Republik brauchen wir nicht - wir müssen die bessere gesellschaftliche Alternative werden


Wir brauchen bei uns eine Große Koalition der Vernunft

Wie und wann ist der "Demokratische Aufbruch - sozial, ökologisch" entstanden, wer arbeitet dort mit?

Der erste Versuch einer Gründungsversammlung mit 70 Vertretern aus dem ganzen Land erfolgte am 1. Oktober '89 in Berlin. Er wurde von den Sicherheitskräften unterbunden. Zweiter Anlauf dann am 30. Oktober im Evangelischen Diakoniewerk in der Heubergstraße in Lichtenberg mit 200 Delegierten. Es wurde ein vorläufiger Vorstand gewählt mit dem Vorsitzenden Wolfgang Schnur, Rechtsanwalt aus Rostock. Wir haben am 29. Oktober [1989] eine Kommission gebildet, die intensiv an einem Programmentwurf arbeitet. Das wird der Parteitag beschließen. Wir nennen es "Vorläufiges Programm" mit den Stichworten demokratisch, ökologisch, sozial und gewaltfrei. Das Statut haben wir bereits am 19. Oktober verabschiedet.

An welche Kreise wendet sich der Demokratische Aufbruch, wer trägt ihn?

Gegenwärtig ist das Spektrum erfreulich breit, der Vorstand prägte nicht zufällig den Begriff "Volkspartei". Kürzlich in Bonn wurden Wolfgang Schnur und ich immer wieder gefragt, welcher etablierten BRD Partei wir nahestünden. Und nicht aus taktischen Gründen, sondern weil es wirklich nicht zu benennen ist, sagten wir: keiner. Auch wenn es sich vielleicht hochtrabend anhört: Wir sind gegenwärtig so etwas wie eine Partei neuen Typus. Es gibt bei uns Kommunisten (ehemalige SED-Mitglieder eingeschlossen), Sozialdemokraten, Christen, ökologisch Interessierte, liberal Orientierte, Arbeiter, Intellektuelle, kirchliche Mitarbeiter, kleine Gewerbetreibende und Handwerker. Man wird sehen müssen, wenn sich unser noch blasses Profil deutlicher zeigt, ob der Demokratische Aufbruch dann noch immer so sozial breit gefächert sein wird wie jetzt.

Demokratischer Aufbruch - das hat etwas Temporäres. Man kann nicht jahrelang aufbrechen?

Das wollen wir aber.

Wie groß ist Ihre potentielle Mitgliedschaft?

Acht- bis sechzehntausend. Wie realistisch das ist, weiß ich aber nicht. Die Zentren des Demokratischen Aufbruchs finden sich im sächsischen und thüringischen Gebiet. Bei Wahlen wird uns eine zweistellige Zahl prognostiziert.

Es scheint, dass in dieser Partei sehr viele Pfarrer zu finden sind.

Der Prozentsatz der Theologen ist sehr gering. Der Eindruck rührt vom Beginn. Unter den neun Menschen, die im Sommer zusammensaßen und fragten, ob es nicht sinnvoll wäre, eine neue Partei zu gründen, waren sechs Pastoren. Das erklärt sich so: Im August konnte ich noch kein Schild ins Fenster hängen mit der Erklärung, ich wolle eine neue Partei gründen. Da fragte man nur die Vertrauten - und das waren Amtsbrüder und Leute aus der Gemeinde. Da wir aber nie die Absicht hatten, eine kirchliche Partei zu gründen, fragten und fragen wir nicht nach dem weltanschaulichen Bekenntnis. Wir wollen keine Partei mit einem "C" werden. Wenn man diesen Anspruch "christlich" ernst meint, kann man keine Partei gründen. Man kann als Mensch immer nur versuchen, Christ zu sein, aber nie behaupten: Ich bin es. Eine politische Organisation behandelt nun mal nicht nur ethische Fragen.

Ihr Name tauchte erstmals in der Öffentlichkeit auf im Zusammenhang mit denunziatorischen Meldungen. In Ihrer Wohnung fanden Sie "Wanzen". Ich wollte dies damals nicht glauben, hielt so etwas für unmöglich in unserem Lande. Wo woran diese Dinger?

Hier im Radio war eine drin, nebenan in der Lampe die zweite, die dritte fanden wir in der Steckdose meines früheren Arbeitszimmers. Die Wohnung war flächendeckend bis ins Klo und ins Schlafzimmer abgehört worden. Die ungeheuerliche Sache ist übrigens bis heute noch nicht aufgeklärt worden.

Momentan werden überall MfS-Dienststellen gestürmt. Was erwartet man dort? Spitzelberichte, Hinweise darauf, wer Weisung gab, beispielsweise Eppelmann abzuhören, Denunziationen? Und dann? Will man die Denunzianten öffentlich nennen? Und weiter: Was soll mit diesen danach geschehen? Die Sache macht nicht viel Sinn - oder? Besteht nicht die Gefahr, dadurch die Spannungen im Lande zu vergrößern? Und: Wie geht es weiter?

Mich erfüllt das alles auch mit sehr großer Sorge. Walter Momper hat dieser Tage den richtigen Satz gesagt: Die Macht liegt auf der Straße. Das heißt: Keiner hat sie. Es gibt keine demokratische Partei oder Bewegung, die die Legitimation hätte, sie zu ergreifen. Wir brauchen darum eine "Große Koalition der innenpolitischen Vernunft". Der "Runde Tisch" ist diese Koalition nicht. Das ist der Versuch, die DDR der Zukunft aufzubauen, Schneisen dafür zu schlagen, dass es eine DDR mit Zukunft geben kann. Über die Zukunft dürfen wir aber nicht die Gegenwart vergessen. Der jetzigen Regierung, die ausschließlich aus Kräften der alten Parteien besteht fehlt zudem das Vertrauen der Bevölkerung. Das hat nichts mit der vorhandenen Integrität Hans Modrow zu tun.

Bei uns muss es in ganz, ganz kurzer Zeit zu einer solchen Koalition kommen. Ich gebe dieser DDR unter den gegenwärtigen Bedingungen sonst keine sechs Monats mehr, dann ist sie ausgeblutet.

Wir brauchen also eine Regierung, mit der wir nicht nur leben können. Deren momentan stärkste Kraft, die SED, ist gescheitert. Und die anderen?

Der Abbau der anderen "Blockparteien" steht noch bevor. Fälle von Korruption hat es doch nicht nur in der SED gegeben. Man kann ja mal fragen, wie viele Kraftfahrer Gerald Götting gehabt hat, oder was die anderen Parteien mit ihren Devisenkonten gemacht haben. Da wird noch so manches auf uns zukommen. Gerlach war nur der Pfiffigste von allen. Mehr aber auch nicht. Das prädestiniert ihn noch lange nicht dafür, der neue Mensch für eine neue DDR zu sein. Da müssen integre Frauen und Männer hin. Es wird nicht einfach sein, solche Leute dafür zu gewinnen weil auch sie wissen, dass sie sich schmutzig machen werden. Sie werden doch nicht nur Jubel auslösen. Wenn zum Beispiel Manfred Stolpe oder Bärbel Bohley oder Rainer Eppelmann oder wer auch immer Verantwortung übernehmen und notwendige Entscheidungen treffen wird, dann werden uns auch Leute "Verräter" nennen.

Wie sollte eine solch Aktion praktisch aussehen? Sollte Modrow erklären: Die Regierung tritt zurück. Jetzt kommen andere, nämlich die und die und der?

Vielleicht so. Doch wir müssen sehen: Auch das hat keins demokratische Legitimation ohne eine Wahl. Doch wir können nicht in zwei Wochen wählen. Von BRD-Politikern habe ich mir sagen lassen, die kürzeste Vorbereitung für Wahlen seien sechs Monate - unter geordneten Verhältnissen. Wir haben aber noch nicht einmal ein Wahlgesetz. Das heißt: Bei uns wird es noch viel länger dauern müssen, wenn es nicht so chaotisch zugehen soll wie bei der Öffnung der Grenzen. Um mich nicht falsch zu verstehen: Ich bin nicht dagegen gewesen, aber die Art und Weise, wie dies geschah, war politisch verantwortungslos. Bei der Wahl geht es um Gründlichkeit und nicht um Minutenideen. Unser Termin heißt darum 30.9.90.

Und wie könnten wir ihn erleben?

Wenn es so schnell wie möglich zu einer "Großen Koalition" der innenpolitischen Vernunft käme.

Sie zitierten Momper. Westberlin ist eine Insel in der DDR. Wer auf einer Insel lebt sollte das Meer sich nicht zum Feinde machen, hieß es lange in der Propaganda. Da ist ja etwas dran. Ich meine, wenn Momper sich um die DDR sorgt, ist dies durchaus eigennützig und nicht mit dem Vorwurf der Einmischung in unsere Angelegenheiten abzuschmettern. Momper soll Krack eine Liste mit Namen herübergereicht haben?

Ja, davon habe ich auch schon gehört. Er sollen 13 Namen darauf gestanden haben. Momper nannte Leute, von denen er meint, die müssen in einer solchen neuen Regierung drin sein. Gysi soll auf der Liste gestanden haben, Modrow, Berghofer, Ibrahim Böhme, Bärbel Bohley, Stolpe, Christa Wolf, Eppelmann . . . In einer solchen bedrohlichen Situation muss Ungewöhnliches gewagt werden, ja. Ich habe zwar den Eindruck, dass die meisten von uns dafür zu grün sind, doch im Apparat sitzen Fachleute, die wohl zur Mitarbeit bereit wären, wenn sie diese DDR nicht den Bach heruntergehen lassen wollen.

Perspektive DDR. Uns eint gewiss die Verstellung, dass dieses Land als gesellschaftliche Alternative zur BRD bleiben muss. Gesetzt den Fall, wir nutzen die knappe Zeit die bleibt. Wie könnte diese DDR aussehen?

Ich wage nicht, das Wort "sozialistisch" zu gebrauchen. Dieses Wort ist befleckt, es assoziiert 40 Jahre DDR - da müssen wir uns nicht wundern, wenn viele bei Nennung des Begriffes "Sozialismus" die Zunge raus strecken.

Eine weitere kapitalistische deutsche Republik brauchen wir nicht. Die zweite die auf absehbare Zeit auch die ärmere sein wird, hat in der Tat nur dann einen Sinn, wenn sie eine gesellschaftliche Alternative zur BRD ist. Erstens: das Staatseigentum muss dominieren (draußen lauert das Kapital und wartet darauf, eingelassen zu werden. Die Quittung käme spätestens in fünf Jahren), zweitens brauchen wir eine engere soziale und ökologische Rahmengebung der Wirtschaft.

Das setzt voraus, dass die Leute in politischen Zusammenhängen denken. Ich fürchte nur, nach 40 Jahren sind die meisten politikgeschädigt und politikverdrossen.

Die Gefahr sehe ich auch. Mit linken 15 Prozent erreicht man das nicht. Es gibt im Spektrum auch 7 bis 15 Prozent Rechtsradikale, dazwischen aber die inaktive Mehrheit. Wie gehen wir mit ihr um? Um die Inaktiven nicht den Rechten in die Arme zu treiben, müssen wir uns ihren Wünschen, Empfindungen, Erwartungen stellen. Das heißt nicht, dass wir zu allem Ja und Amen sagen dürfen. Aber es kann uns Linken nicht gleichgültig sein, was 70 Prozent der DDR-Bevölkerung bewegt. Sonst sorgen sich die anderen um sie. Wenn es die ersten freien Wahlen gibt, und wir machen nichts, dann haben plötzlich die Braunen 50 Prozent und stellen die Regierung. Was dann?

Grausige Vorstellung.

So ist es.

Am Ende eine sehr private Frage. Sie sind noch 18 Ehejahren geschieden worden.

Es war für meine Frau auf Dauer zu viel. Gefängnis, Diskriminierung, Druck, Drohung . . .

Gefängnis?

Ich saß Ende der 60er Jahre acht Monate, weil ich als Bausoldat nicht das Gelöbnis gesprochen hatte. Und bitter ging es weiter. Im Januar 1981 rief mich mein Bischof zu sich. Bruder Forck teilte mir mit, dass er vom Staatssekretär für Kirchenfragen beauftragt worden sei, mir mitzuteilen, der Generalstaatsanwalt habe bergeweise Belastungsmaterial gegen mich, was mich für viele Jahre ins Gefängnis bringen würde. Das Angebot des Generalstaatsanwalts lautete: eine Woche Bedenkzeit, um das Land zu verlassen. Da habe ich gesagt: Dann müsst ihr mich einsperren.

Und?

Nichts. Es war Erpressung, die nicht fruchtete. Es ging weiter mit Verunglimpfungen, anonymen Briefen . . .

Warum sind Sie trotzdem geblieben?

Ich bin hier geboren. Ich konnte meine Gemeinde nicht im Stich lassen. Hier ist meine Heimat. Das was ich heute bin, ist das Resultat eines Lebens. Ginge ich in eine andere Welt brauchte ich wieder 15 bis 20 Jahre. Die habe ich nicht. Meine Zukunft ist nur in diesem Land und nicht woanders.

(Das Gespräch führte
Frank Schumann)

Pfarrer Rainer Eppelmann wurde 1943 in Berlin geboren. Seit dreizehn Jahren arbeitet er in der Berliner Samaritergemeinde. Er ist Vater von vier Kindern und geschieden. Eppelmann gehört dem zehnköpfigen vorläufigen Vorstand des Demokratischen Aufbruchs an und ist dessen Pressesprecher.

aus: Junge Welt, Organ des Zentralrats der FDJ, Nr. 290, 09./10.12.1989, 43. Jahrgang


Der Regierende Bürgermeister von Berlin, Walter Momper, lud am Abend des 04.12.1989 mehrere Oppositionsvertreter ein und forderte sie auf die Macht, die auf der Straße liege, zu ergreifen. Was die Angesprochenen aber ablehnten. Unter den Eingeladenen war auch Rainer Eppelmann


nach oben