Euphorie und Schreckgespenster
Von Prof. Dr. Klaus Thiessen, Akademie der Wissenschaften der DDR
Anfang der 70er Jahre hatte ich Gelegenheit, in den USA den gerade entstandenen Technologiepark "Silicon valley" südlich von San Francisco und den zu dieser Zeit schon länger existierenden Ring von Innovationsfirmen, welcher sich gleichsam als Gürtel um das Massachusetts Institute of Technology legt, zu besuchen. Obwohl ich zu dieser Zeit Forschungsleiter des Werks für Fernsehelektronik war, konnte ich in der Akademie der Wissenschaften darüber berichten. Kein einziger der Anwesenden war bezüglich der von mir geschilderten Notwendigkeit der sofortigen Gründung von kleinen flexiblen Innovationsbetrieben auch und vor allem auf dem Gebiete modernster Technologien anderer Meinung; die ganze Angelegenheit verlief jedoch im Sande. Sie passte nicht in die Landschaft der Euphorie der Allmacht einer Zusammenfassung von Betrieben zu großen Kombinaten.
Seither bin ich fest überzeugt, dass nur die Verflechtung eines Systems von Innovationsbetrieben, die sich auf ein einziges oder wenige Erzeugnisse konzentrieren, mit leistungsfähigen Kombinaten die schnelle Überführung von Ergebnissen der Forschung in die Praxis, die Erkennung von Kinderkrankheiten dieser Erzeugnisse sichert. Bewährt sich das Erzeugnis und wächst der Bedarf an, so können sich diese Betriebe selbst zu Großbetrieben entwickeln und ihrerseits neue Innovationsformen "gebären", oder existierende Großbetriebe übernehmen die Produktion, um Platz für weitere Innovationen zu schaffen. Bewährt sich das Erzeugnis nicht, so ist eine Veränderung in den Kleinbetrieben ohne großen Aufwand möglich.
Stets hielt man mir entgegen, dass wir den Investitionsaufwand nicht bestreiten können mit der Begründung: "Kombinate arbeiten viel effektiver." Diese Behauptung stimmt bei großem Produktionsumfang gleichartiger bzw. ähnlicher Erzeugnisse. Natürlich kann man Autos oder Normteile besser in Kombinaten produzieren, nicht aber spezielle Geräte, Werkstoffe und ähnliches, bei denen der Forschungsaufwand relativ hoch ist, die Stückzahlen aber zunächst relativ gering sind.
Für mich steht auch außer Frage, dass Joint ventures, das heißt gemeinsame Betriebe mit kapitalistischen Firmen für uns unabdingbar sind. Da mehrere sozialistische Staaten heute gute und auch schlechte Erfahrungen damit gemacht haben, kann man ja die Fehler so weit wie möglich berücksichtigen. Auch bei Joint ventures wird, wie bei den oben angeführten Kleinbetrieben, nicht ausbleiben, dass dieser oder jener Betrieb sich nicht bewährt und wieder aufgegeben werden muss.
Da liegt ja gerade einer unserer bisherigen Fehler: Die Betriebe oder Produktionen wurden auch dann noch durchgeschleppt, wenn dies überhaupt nicht mehr ökonomisch zu verantworten war.
Einige der Vorteile von Joint ventures sind: unproblematische Bereitstellung von Material und Produktionsmitteln, Nutzung von "Know-how", effektives Management, Ausnutzung der Arbeitszeit, Möglichkeit der wirklichen Leistungsbewertung, Nutzung des Vertriebs- und Servicenetzes beider Partner, das Interesse beider Partner, eine wirklich hohe Erneuerungsrate der Produktion zu sichern, da echte Konkurrenz auf dem Weltmarkt erforderlich ist.
Die Schreckgespenster für viele weltfremde Funktionäre, wie beispielsweise das "Hereinreden" der kapitalistischen Miteigentümer der Betriebe, die Einführung von gewissen Formen der Marktwirtschaft, die Notwendigkeit, eine Konvertierbarkeit der Währung schneller anstreben zu müssen, eine "Aufweichung" des Sozialismus, das Hereintragen von Elementen einer anderen Ideologie, die Abhängigkeit vom Partner und anderen sind meines Erachtens leicht widerlegbar. Im übrigen sollten Joint ventures nicht nur in der DDR gebildet werden; auch die Beteiligung von DDR-Betrieben an Firmen im westlichen Ausland wäre von großer Wichtigkeit.
aus: Neues Deutschland, 17.11.1989, Jahrgang 44, Ausgabe 271. Die Redaktion wurde 1956 und 1986 mit dem Karl-Marx-Orden und 1971 mit dem Vaterländischen Verdienstorden in Gold ausgezeichnet.