Der Ausschuss des Landessprecherrates des Neuen Forum gibt ein Grundsatzpapier heraus, in dem es heißt:
"Vor mehr als drei Monaten sind wir gemeinsam aufgebrochen, um einen Ausweg aus der Krise unseres Landes zu suchen. In unserem ersten Papier hatten wir Ziele und Widersprüche formuliert. Diesen Aufruf haben mehrere hunderttausend Menschen unterschrieben.
Es haben sich in den letzten Wochen und Monaten etwa ein Dutzend Parteien und Organisationen gebildet. Es ist zu erwarten, dass weitere hinzukommen werden. Der politische Einfluss der Opposition sinkt mit der zunehmenden Zahl der Parteien, deren Programme kaum voneinander zu unterscheiden sind. Eine solche Entwicklung nutzt nur dem alten Machtapparat.
Zum Politikverständnis des Neuen Forum:
1. Nach 40 Jahren vormundschaftlichen Denkens ist es notwendig, dass wir nicht länger mehr unsere Verantwortung an Parteien delegieren, sondern die Politik selbst gestalten.
Basisdemokratie ist nicht nur gemeinsames Reden, sondern vor allem gemeinsames Erarbeiten politischer Lösungen und gemeinsames Handeln.
2. Die Erfahrungen und das Wissen von Mitgliedern aus mehreren Parteien und Organisationen sind wichtig - davon lebt das Neue Forum. Mitglieder anderer Organisationen sollen weiterhin in unseren Basis- und Themengruppen mitarbeiten können.
3. Uns ist der einzelne Mensch wichtig und seine moralische und politische Integrität ausschlaggebend. Uns ist das Gemeinsame wichtig, nicht das Trennende.
In einigen Tagen wird ein erster Programmentwurf vorliegen. Über diesen Entwurf wollen wir streiten. Hierbei sollen auch die Meinungen von Minderheiten berücksichtigt werden.
Zu den Wahlen:
Es wird an einem neuen Wahlgesetz gearbeitet, und wir hören von den alten und neuen Parteien, dass in der nächsten Volkskammer nur noch Parteien vertreten sein sollen. Wenn nur über Parteienlisten gewählt wird, hat der Bürger keinen Einfluss auf die Person, die ihn vertreten soll. Das bedeutet Parteiendiktatur. Wir halten das für eine Einschränkung der Demokratie.
Im Statutentwurf des Neuen Forum steht: "Mandate des Neuen Forum in Volksvertretungen können nur von Mitgliedern des Neuen Forum wahrgenommen werden, die keiner Partei angehören." Diese Formulierung stellt eindeutig klar, dass es im Neuen Forum keine Schleppmandate für andere politische Parteien geben wird.
Wir fordern, dass dies auch für andere Organisationen gelten muss. Das Neue Forum geht davon aus, dass das neue Wahlgesetz Parteien und Gruppen von Wahlberechtigten die Möglichkeit geben muss, eigene Kandidaten vorzuschlagen. Die Bevölkerung soll nicht nur Parteimitglieder, sondern auch parteilose Bürger und Bürgerinnen wählen können. Wir wollen Sachkompetenz und Bürgernähe fördern, nicht aber ein basisfernes Berufspolitikertum.
Das Neue Forum wird dafür kämpfen, dass es zur Wahl zugelassen wird, wenn nötig mittels Volksentscheid. Die Bildung von sogenannten Neuen-Forum-Parteien in Thüringen, Karl-Marx-Stadt und Hellersdorf sind eigenmächtige Anmaßungen einzelner. Wir erklären, dass wir an der Absicht festhalten werden, eine Vereinigung zu gründen und keine Partei. Alle, die eine Partei gründen wollen, müssen dies außerhalb des Neuen Forum tun, denn das Neue Forum als eine Vereinigung kann rechtlich keine Partei sein. Zudem besteht die Möglichkeit, sich einer bereits bestehenden Partei anzuschließen.
Für den Ausschuss des Landessprecherrates: Bärbel Bohley, Rolf Henrich, Andreas Schönfelder, Reinhard Schult, Luise Schramm, Ilona Weber.
(Sabine und Zeno Zimmerling, Neue Chronik DDR 3. Folge, 1. Auflage, Verlag Tribüne Berlin GmbH 1990, ISBN 3-7303-0595-6)