Demonstrationen, Kundgebungen und Dialogveranstaltungen Dezember 1989


Fr. 01.12.

Auf dem oberen Hauptmarkt in Gotha findet eine Kundgebung statt. Aufgerufen dazu hat die SDP.

Sa. 02.12.
Potsdam (ND). "Europa im Aufbruch" - unter diesem Motto stand eine Kundgebung, zu der das Neue Forum Potsdam, für Sonnabendnachmittag aufgerufen hatte und zu der sich Hunderte Bürger der Havelstadt vor dem Karl-Liebknecht-Forum versammelten. Der unlängst von den Grünen zur SPD übergewechselte Bundestagsabgeordnete Otto Schily sagte, es sei das erste Mal in der deutschen Geschichte, dass das Volk die Demokratie selbst errungen hat. Er hoffe, "dass wir in der Bundesrepublik ein wenig davon lernen. Was in Osteuropa stattfindet, braucht auch eine Antwort im Westen". Was in der DDR geschehe, sei keine Niederlage des Sozialismus, sondern ein Sieg der Demokratie. Der SPD-Politiker wandte sich gegen eine "Deutschland-über-alles-Politik".

Jens Möller, Vertreter der SDP Potsdam, lehnte den von prominenten Persönlichkeiten der DDR initiierten Aufruf "Für unser Land" ab. Dieser stehe im Widerspruch zum Statut der SDP. Seiner persönlichen Auffassung nach wolle die Mehrheit ein einheitliches Deutschland - eine Feststellung, die auch mit Pfiffen kommentiert wurde.

Potsdam (ADN). Um die Rolle der DDR im "Haus Europa" ging es am Sonnabend bei einer Demonstration in Potsdam.

Kontrovers die auf Plakaten geäußerten Meinungen zur Wiedervereinigung. Eine Vereinigung von DDR und BRD in entmilitarisiertem Rahmen schlug Detlef Kaminski vom Potsdamer Neuen Forum vor. Otto Schilly, Bundestagsabgeordneter der SPD, sagte: "Was wir heute erleben ist nicht die Niederlage des Sozialismus, sondern der Sieg der Demokratie. Natürlich sind beide Begriffe belastet, doch wir dürfen uns nicht davon verabschieden, dass eine Gesellschaft sozial sein muss." Auf Ernst Blochs

geflügeltes Wort eingehend, sagte er, dass das Volk der DDR jetzt den aufrechten Gang geht. Er hoffe auf das Übergreifen dieses Prozesses auf die BRD, denn seiner Meinung nach bedürfen die Vorgänge im Osten einer Antwort aus dem Westen.

Magdeburg. Im Anschluss an eine Kundgebung auf dem Magdeburger Domplatz formierte sich ein Demonstrationszug zum Gebäude des Rates des Bezirkes. Auf Transparenten stand "Wer in 40 Jahren nur an den Rand des Ruins kommt, darf nie wieder Führungsrollern". "Dank Honecker und Co. sehen wir das heute so: S chmarotzertum, E goismus, D emagogie".

Auf der Kundgebung hatte die "Antifa-Liga Magdeburg" Flugblätter "gegen Rechts" verteilt, in denen es heißt: "Ein beunruhigendes Gerede über eine deutsche Wiedervereinigung hat eingesetzt, das bei vielen Menschen . . . nicht ohne Wirkung bleibt. Gleichzeitig wird versucht, den Ausländern die Schuld an den Versorgungsschwierigkeiten zuzuschieben." Die Autoren des Blattes hätten eine extreme Zunahme von Ausländerfeindlichkeit und Ausländerhass beobachtet und stellten fest: "Vorsicht! Die Nazis sind im Aufwind".

Von der Bürgerinitiative Colbitz wurde auf dem Domplatz eine Unterschriftensammlung für die Rekultivierung des Truppenübungsplatzes Colbitz-Letzlinger Heide gestartet.

Magdeburg (ND). Auf einer Kundgebung, zu der Neues Forum und SDP am Sonnabend auf den Magdeburger Domplatz eingeladen hatten, teilte der Sprecher des Neuen Forums Hans-Joachim Tschiche mit, man wolle demnächst die Arbeit für zwei Stunden niederlegen.

Der Demonstrationszug in Potsdam zieht durch die Innenstadt bis zur MfS-Bezirksverwaltung.

An der Kundgebung in Potsdam nimmt auch der 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung, Heinz Vietze teil. Er darf dort nicht reden. Seine Rücktrittsforderung an Egon Krenz wird aber den Versammelten mitgeteilt.

PLAUEN. Annähernd 15 000 Bürger von Plauen und Umgebung vereinten sich am am Sonnabend zur nunmehr achten friedlichen Demonstration seit dem 7. Oktober.

In Reden und auf Transparenten wurden u. a. dem Wunsch nach Wiedervereinigung Deutschlands und einem entsprechenden Volksentscheid in beiden deutschen Staaten Ausdruck verliehen.

Vor dem Haus des Zentralkomitees der SED in Berlin demonstrieren Mitglieder der Partei gegen ihre Führung. Der Rücktritt des Politbüros wird gefordert. Gegen Egon Krenz, der ans Mikrophon trat, gibt es Pfiffe und Buhrufe.

Von Kavelstorfer Bürgern wird die sofortige Auflösung der IMES-GmbH und den Stopp aller Waffenlieferungen gefordert.

Demonstrationen gab es in weiteren Städten, so in Rostock, wo auf der Kundgebung vom Waffenhandel der IMES-GmbH berichtet wurde.

Ab sofort den Fünf-Tage-Unterricht einzuführen, haben am Sonnabendmorgen Schüler der 22. Oberschule Hellersdorf und der 38. Oberschule Lichtenberg gefordert. Dies steht im Gegensatz zu den vom Bildungsministerium getroffenen Festlegungen, den unterrichtsfreien Sonnabend nach den Winterferien 1990 einzuführen.

So. 03.12.
Am Sonntagnachmittag folgen Tausende SED-Mitglieder in Berlin dem Aufruf der SED-Kreisdelegiertenkonferenz der Akademie der Wissenschaften zu einer Kundgebung vor dem ZK-Gebäude. Wie schon am Vorabend auf einer Kundgebung der Berliner SED-Bezirksorganisation manifestieren sie ihren Willen nach völliger Erneuerung der SED. Unter ihnen befinden sich auch Berliner Kunst- und Kulturschaffende, die von ihrer im Friedrichstadtpalast anberaumten Diskussion zu Ökonomie- und Gesellschaftsstrategien unmittelbar zur Kundgebung vor dem SED-ZK-Gebäude eilten, um dort ihren Protest und ihre Forderungen einzubringen.

Zu tumultartigen Szenen kommt es, als Ex-SED-Politbüromitglied Günter Schabowski die Demonstranten über Ergebnisse der ZK-Tagung informieren will. Seine Mitteilung vom Rücktritt des ZK und Politbüros wird mit Beifall aufgenommen, weitere Äußerungen über Beschlüsse der ZK-Tagung gehen in Pfiffen, Buhrufen und Sprechchören unter.

Demonstranten erzwingen den Zugang zum Brockengipfel. Aufgerufen haben mehrere Bürgerinitiativen. Der Brockengipfel ist bis dahin militärisches Sperrgebiet.

Mo. 04.12.
Zu einer erneuten Demonstration treffen sich in Leipzig 150 000 BürgerInnen. Zuvor fanden in fünf Kirchen der Stadt Friedensgebete statt. Hauptforderung der Demonstranten ist die nach konsequenter Abrechnung mit den Schuldigen an der Staatskrise in der DDR und "Deutschland einig Vaterland!"

"Keine Gewalt" - am 4. November bekam diese Forderung eine besondere, ganz auf unsere politische Situation bezogene Bedeutung. "Keine Gewalt" - nur so können die Demonstrationen landauf, landab ihre Legitimation nachweisen, ihre Redlichkeit. Das ist von Zehntausenden begriffen worden. Um so mehr machen die Ausnahmen betroffen, die entweder nicht fähig sind, die Brisanz unserer Lage einzuschätzen oder die ganz bewusst das Feuerchen schüren, das auch friedliche Demonstrationen ins Gegenteil verkehren kann.

In den letzten Wochen war die Montagsstadt Leipzig positiv in den Schlagzeilen. Da gab es Forderungen, die dem Willen des Volkes entsprachen und die der Realismus prägt. Doch seit der vergangenen Demo ist das anders. Hier ein subjektiv geprägter Ablauf dieses Abends:

17.30. Die Friedensgebete haben in den Kirchen begonnen. Auf dem Innenhof der Karl-Marx-Uni im Stadtzentrum sammelt sich eine kleine Gruppe von Studenten, um mit Plakaten gegen Wiedervereinigung und Rechtsradikalismus zu demonstrieren.

17.45. Der Platz vor der Oper beginnt sich zu füllen. Dutzende Deutschlandfahnen werden geschwenkt.

Transparente mit Sprüchen wie: "Deutschland - einig Vaterland" oder "44 Jahre Teilung ist eine lange Zeit, zur Wiedervereinigung sind wir bereit" dominieren. Die Anti-Wiedervereinigungs-Gruppe wird mit Buh-Rufen und Sprechchören: "SED - das tut weh" oder "Rote aus der Demo raus" empfangen. Die Stimmung droht zu eskalieren. Vereinzelte Handgreiflichkeiten können geschlichtet werden.

18.00. Auf der Demo sprechen erstmals keine Vertreter von Parteien. Bürger aus Leipzig stehen vor dem Mikro. Sie haben von ihren abgesetzten Vorrednern, die von Kampfmanifestationen allerorten bekannt sind, gelernt. Eine leere Worthülse wird an die nächste gereiht. Jubel und Pfeifkonzerte wechseln ab. Dazwischen immer wieder Sprechchöre: "Wir sind Deutsch" und "Deutschland - einig Vaterland". Verschiedene Studenten und die auf dieser Demo kaum zu findenden Anhänger des NEUEN FORUMS versuchen die teilweise durch Alkohol aufgeputschte Menge zur Vernunft zu bringen. Ohne Erfolg. Wie in Ekstase werden Gegenstimmen niedergebrüllt und ausgepfiffen.

18.30. Der Zug setzt sich in Bewegung zum Hauptbahnhof. Unter wildem Freudengeheul wird ein metergroßer Galgen hin und her geschwenkt. Am Strick eine Tafel mit den Namen Honecker, Mittag und Tisch. Obwohl Jochen Läßig vom NEUEN FORUM vor der Menge bat, keine rivalisierenden Blöcke entstehen zu lassen, ist das eingetreten.

19.15. Die Menge ist am Staatssicherheitsgebäude angekommen. Die lebende Kette des NEUEN FORUMS kann die Massen kaum zurückhalten. Über Lautsprecher wird bekanntgegeben, dass seit 30 Minuten fünf Mitglieder von Oppositionsgruppen das Gebäude besetzt haben. Frenetischer Jubel. Der Menge ist das nicht genug. Alle wollen ins Stasigebäude. Dazwischen immer wieder die beruhigenden Worte des NEUEN FORUM. Eine Stunde später lassen die ersten Demonstranten von ihrem Vorhaben ab, während im Gebäude Fotografen und 30 Bürger die Versiegelung der Räume beaufsichtigen.

20.30. Auf dem Karl-Marx-Platz formiert sich eine Gegendemo mit DDR-Fahnen. Die wenigen Hundert finden kaum Beachtung. Einige ganz Mutige brüllen:

"Kommunistenschweine" oder "Euch hätte man bei Hitler vergast". So tolerant ist Leipzig in diesen Tagen. Sind die Angstdemos bis zum 9. Oktober schon in Vergessenheit geraten?

Suhl. Ein Bürgergespräch mündete am späten Abend in einen Protestmarsch zum Gebäude des Bezirksamtes für Nationale Sicherheit. Durch Rundfunkmeldungen und Telefongespräche mit Erfurter Bürgern waren sie darauf aufmerksam geworden, dass in Einrichtungen des Amtes belastendes Aktenmaterial vernichtet würde.

Dresden. Ihre Bereitschaft zum politischen Warnstreik bekräftigten mehr als 60 000 Bürger am Montag auf dem Gelände vor den Ausstellungshallen am Dresdner Fučíkplatz.

Karl-Marx-Stadt. Vor mehr als 60 000 Menschen in Karl-Marx-Stadt dementierte am Montagabend der Sprecherrat des Neuen Forums erneut den Aufruf zum Generalstreik für kommenden Mittwoch. Der Streik könne nur das allerletzte Mittel zur Lösung politischer Konflikte im Land sein.

Nach Friedensgebeten in mehreren Kirchen kamen am frühen Montagabend rund 10 000
Schweriner auf dem Alten Garten zusammen. Dort formierte sich ein friedlicher Demonstrationszug, der durch die Innenstadt seinen Weg zum Bezirksamt für Nationale Sicherheit nahm. Auf Transparenten forderten die Demonstranten "Korrupte Räuber hinter Gitter".

Eine neue Familien- und Bildungspolitik verlangten am Montagabend mehrere tausend Frauen und Kinder auf einer Demonstration in Cottbus, zur der das Neue Forum und kirchliche Frauengruppen aufgerufen hatten. Die Teilnehmer forderten die Entfernung von Kriegsspielzeug aus Kindergärten und Schulen, mehr Freizeitmöglichkeiten für die Mädchen und Jungen sowie den Erhalt der Umwelt.

Auf ihrer Montagsdemonstration forderten Zehntausende Hallenser vor allem wirksamere Maßnahmen des Umweltschutzes. Sprecher vieler Bürgerinitiativen verwiesen darauf, dass Halle und sein Umland zu den Gebieten mit dem höchsten Verschmutzungsgrad von Luft und Wasser in der DDR gehören. Denkmalpfleger machten auf den katastrophalen Bauzustand im Inneren der weit über 1000jähngen Saalestadt aufmerksam.

Demonstranten ziehen in Neubrandenburg vor das Redaktionsgebäude der SED-Bezirkszeitung "Freie Erde". Die Forderung ist, die Zeitung als Zeitung der Bürgerbewegung zu übernehmen. Es wurde schließlich vereinbart künftig eine Seite pro Woche für die Bürgerbewegung zur Verfügung zu stellen.

Ca. 300 Armeeangehörige im Bereich des NVA-Objekts Bad Frankenhausen begeben sich am Abend mit brennenden Kerzen vor das Stabsgebäude des mot. Schützenregiments. Es wurden Losungen gerufen wie "Schließt Euch an, wir wollen arbeiten, wir wollen in die Volkswirtschaft, Stasi raus". Während des rund einstündigen Gesprächs mit dem Kommandeur, kommen Probleme wie Durchführung von Reformen in den Streitkräften, Ankündigung der Gründung eines Soldatenrates zur Durchsetzung der Interessen der Wehrpflichtigen, Probleme der Dienst- und Lebensbedingungen, besonders mehr Urlaub, Verfehlungen einzelner Offiziere, sowie weitere Mängel im täglichen Dienst, zur Sprache.

Zu einer Kundgebung auf dem Zentralen Platz in Frankfurt versammeln sich mehrere tausend Menschen. Unterstützt wird der Aufruf "Für unser Land" und eine Vereinigung mit der BRD abgelehnt. Aufgerufen zu der Kundgebung hat die SED.

Von der Marienkirche in Bernburg ziehen Demonstranten nach einem Friedensgebet zum Rathaus. Es wird u. a. "Deutschland einig Vaterland" gerufen. Der Bürgermeister stellt sich zu einem Gespräch.

Weitere Demonstrationen finden in Berlin Magdeburg und Potsdam statt.

Di. 05.12.
Am Dienstag fand im Stahlwerk Hennigsdorf eine Demo statt. Aufgerufen hatten Neues Forum und LDPD. Mit der Forderung "FDJ raus aus Betrieben!" wurde vom Betriebsdirektor verlangt, das FDJ-"Büro" zu schließen. Was er auch tat. WER - so fragen sich empörte Jugendliche des Betriebes - entscheidet eigentlich über die FDJ-Arbeit im Betrieb, wenn nicht die FDJ-Mitglieder selbst?! Soll hier die alte Einmischung in FDJ-Angelegenheiten etwa durch eine neue ersetzt werden? Heute [06.12.] 17.00 Uhr beraten die Jugendlichen im Jugendklub des Betriebes, wie sie sich gegen diese skandalöse Verfahrensweise wehren können. Junge Welt wird darüber berichten.

Am Dienstag, als fast 1 000 Belegschaftsangehörige des Stahlwerkes Hennigsdorf gegen den Verbleib der Parteileitung und der Kampfgruppe im Betrieb demonstrierten, hieß es auch FDJ - raus aus dem Werk!

Am Mittwoch trafen sich 40 von ihren Jugendlichen beauftragte FDJler, um zu klären: wie weiter?

Ihr Treffpunkt, der stahlwerkseigene Jugendklub der FDJ - ein gutes Argument für de FDJ. Doch in den Gesichtern Frust und Wut, aber auch Kämpfermut. Der FDJ-Sekretär des Betriebes, Ingolf Christianus, berichtete über seine schwierigen Verhandlungen mit dem Betriebsdirektor: "Wir müssen den Realitäten ins Auge blicken. Von 1 600 Stahlwerken sind noch 450 in der FDJ. Aber wir fordern: Die Grundrechte der Jugend lassen wir nicht antasten! Und noch gibt es keine andere Organisation, die darum kämpft."

Ergebnis: Die FDJ-Gruppen können im Betrieb arbeiten! Die zwei hauptamtlichen Sekretäre werden ihr Betriebsbüro verlassen und im Jugendklub Ansprechpartner bleiben.

In der Diskussionsrunde wird klar: Es geht nicht um die FDJ allein. Die jungen Stahlwerker brauchen eine Interessenvertretung, die mehr als nur arbeitsrechtliche Fragen klärt. Denn ihre Stadt lebt vom Stahl.

Deshalb schlagen die FDJler allen jungen Stahlwerkern vor:

1. Schaffen wir uns einen unabhängigen Jugendrat im Werk!

2. Kämpfen wir um unsere Rechte, um die Einhaltung des Jugendgesetz!

Vor der Kreisdienststelle des Amtes für Nationale Sicherheit in Altenburg wird demonstriert.

Vor dem Gebäude des Amtes für Nationale Sicherheit in Lobenstein stellen Demonstranten am Abend Kerzen auf.

Demonstriert wird in Nordhausen.

Mi. 06.12.
Rücktritt des FDGB-Bundesvorstandes, Neuformierung des Arbeitssekretariats unter verstärkter Einbeziehung von Kollegen der Basis, schonungsloses Aufdecken jeglicher Korruption und Veruntreuung. Erhalt der Einheitsgewerkschaft, kein Runder Tisch ohne Gewerkschaften lauteten Forderungen auf der Demo vor dem Bundeshaus.

Studenten der Gewerkschaftshochschule hatten zu dieser Kundgebung am Mittwoch 17 Uhr Am Märkischen Ufer aufgerufen. Dringliches Anliegen: Wir brauchen starke, handlungsfähige Gewerkschaften, um unter neuen Bedingungen wie Joint ventures und zunehmendem Privateigentum die Interessen der Beschäftigten zu wahren. Immer wie der auftauchendes Stichwort: Gewerkschafter müssen künftig sachkundige Tarifpartner sein. Nicht genannt allerdings wurde, wie die Gewerkschaftshochschule dazu mit einem entsprechenden Bildungskonzept beitragen will. Hunderte Berliner hatten sich an diesem nasskalten Abend an der Jannowitzbrücke eingefunden. Mancher, der auf dem Weg nach Hause nur stehenblieb, um sich zu informieren, ging dann doch ans Mikrofon. Waren diese 100 Millionen für das Jubelfest zu Pfingsten nötig? Wie kommen zwei Millionen DM in einen Panzerschrank des Bundesvorstandes? Warum arbeitet der auf der Bundesvorstandstagung am 29. November beschlossene Untersuchungsausschuss zur Aufdeckung von Amtsmissbrauch noch nicht?

Annelis Kimmel antwortete, so gut sie es wusste. Was vielen Demonstranten offenbar nicht genügte. Sie informierte, dass auf der kurzfristig einberufenen Bundesvorstandstagung am Sonnabend das Arbeitssekretariat und sie zurücktreten werden. Ein Satz, der mit Beifall quittiert wurde.

Reiner Schramm, BGL-Vorsitzender im VEB Elektrokohle Berlin-Lichtenberg und Mitglied des Arbeitssekretariats, unterstützte diese Absicht. Er bezeichnete dieses Gremium "als einen unzureichenden Versuch, die entstandene Lage im FDGB in den Griff zu bekommen". Reiner Schramm sprach im Namen mehrerer BGL und AGL-Vorsitzender sowie Vertrauensleute aus Berliner Großbetrieben. Gemeinsame Sorge: Tag für Tag wenden sich Mitglieder tief enttäuscht von unserer Organisation ab. Doch sollten die gehen, die die Kollegen belogen und betrogen und den Namen des FDGB in den Schmutz getreten haben. Weitere Redner wollten aber auch bedacht wissen, dass eine pauschale Verurteilung von Gewerkschaftsfunktionären fehl am Platze sei. Viele haben ehrlichen Herzens jahrzehntelang im Auftrag ihrer Kollegen gearbeitet.

Wann stellen die Gewerkschaften den neu entstandenen Organisationen Arbeitsräume in ihren Vorständen zur Verfügung? Wie steht es mit gleichem Lohn für gleiche Arbeit? Bleibt soziale Sicherheit für Kollegen über fünfzig bei veränderten Eigentumsformen erhalten? Nur einige Fragen und Probleme, die zeigen, wie ungeheuer wichtig intakte Gewerkschaften sind. Und auch das wurde gesagt: Wir streiten uns hier rum, und inzwischen wird die DDR verkauft. Eindringliche Mahnung, bleibt in der Gewerkschaft, erhaltet sie, aber in neuen Strukturen.

Zwei Stunden lang ging es heiß her. Nicht immer sachlich, Emotionen, kaum gebremste, kontroverse Meinungen - kein Schlusswort. Die Demo der Studenten jedoch geht weiter. Heute [07.12.], 14 Uhr in der Weißenseer Parkstraße. Hier tagt der Runde Tisch, was nach Meinung aller an diesem Abend an der Spree Versammelten ohne den FDGB nicht denk bar ist. Lautstark vorgeschlagen Sitz und Stimme für den Mann von der Basis. Reiner Schramm.

Rund 2 000 Gewerkschafter demonstrierten am Mittwochabend vor dem Gebäude des FDGB-Bundesvorstandes in Berlin gegen Korruption und Amtsmissbrauch, für eine konsequente Erneuerung der Gewerkschaft von unten nach oben. Sie forderten unter anderem Teilnahme der Gewerkschaft an den Gesprächen am "Runden Tisch".

Die Gewerkschaftsvorsitzende Annelis Kimmel nahm unter Pfiffen Stellung und akzeptierte ihre Mitverantwortung für frühere Entscheidungen. Der Bundesvorstand werde am Sonnabend zusammentreten. Sowohl sie als auch das Arbeitssekretariat werden ihren Rücktritt vorschlagen. Mehrere Redner, so von Bako und von einem Transportbetrieb, versicherten, dass ihre Kollegen gerade unter den jetzigen Bedingungen hart arbeiten. Auf Transparenten war zu lesen: Generalstreik bedeutet leere Regale, wer will das?

Demonstranten begeben sich in Weißenfels vor die Kaserne des mot. Schützenregiments 18, "Otto Schlag". Es wird u.a. die Einheit Deutschland gefordert. Aus der Kaserne heraus werden die Demonstranten hörbare unterstützt.

Die Übergabe des Gebäudes der SED-Kreisleitung in das Gesundheitswesen fordern Demonstranten in Schmalkalden.

Do. 07.12.

Für freie Wahlen demonstrierten am Donnerstagabend nach Schätzung der Reporter weit über tausend Berliner Bürger, vor allem Jugendliche. Der Zug, der dem Aufruf der Initiativgruppe "Demokratisches Wahlrecht" gefolgt war, zog für etwa zwei Stunden durch das Stadtzentrum. Wiederholt skandierten die Teilnehmer Losungen wie "Freie Wahlen", "Stasi raus" sowie "Nie wieder Deutschland" und "Nazis raus". Ein Teil der Demonstranten verlangte vor dem ZK-Gebäude die Revision der Wahlergebnisse vom Frühjahr.

Zu Demonstrationen kommt es in Erfurt, Neukalen, Neustrelitz und Steinach.

Die rund 700 Teilnehmer einer Kundgebung von Mitarbeitern des Ministeriums für Nationale Verteidigung verabschiedeten am Donnerstag einen Appell. Er enthält u. a. die Aufforderung an alle Angehörigen und Zivilbeschäftigten der NVA und der Grenztruppen, den Verfassungsauftrag zum militärischen Schutz unserer souveränen DDR besonnen und zuverlässig zu erfüllen, sich dabei von alten verkrusteten Ansichten und Handlungen sowie deren Vertretern zu trennen und auch unter schwierigsten Bedingungen mit den Bruderarmeen den Frieden im Zentrum Europas unablässig zu sichern. Im Sinne der antifaschistischen Traditionen dürfe Neonazismus, Rassismus und Ausländerhass nicht zugelassen werden.

Fr. 08.12.
Nach einer Demonstration vor der SED-Kreisleitung in Wismar wird das Haus symbolisch besetzt.

Sa. 09.12.
Nach einer Demonstration besichtigen Bürger das Zentrales Aufnahmeheim Röntgental. Das Zentrales Aufnahmeheim Röntgental dient der Erstaufnahme von Bürgerinnen und Bürger, die in die DDR übersiedeln wollten. Darunter auch solche, die in der DDR gelebt hatten und zurück wollen. Link zu einem Bericht im telegraph Nr. 1, 08.01.1990.

Die Umwandlung des NVA-Militärflugplatzes Kronskamp, zwischen Rostock und Laage gelegen, in eine zivile Einrichtung der INTERFLUG haben am Sonnabend rund 10 000 Bürger aus den drei Nordbezirken auf einem Meeting gefordert. Heiko Lietz vom Neuen Forum rief zu Gewaltfreiheit auf. Flugzeugführer Armin Lai von der NVA warnte vor Illusionen, denn NATO-Flugplätze gebe es noch zur Genüge. Erst kürzlich sei in der DDR das Fluggeschwader von Drewitz aufgelöst worden. Nun sei es an der Zeit, dass auch die Regierung der BRD begreife, daß Abrüstung keine einseitige Sache sein dürfe.

In Rostocks Innenstadt traten Demonstranten ebenfalls am Sonnabend für Antifaschismus und Frieden ein. Mit Spruchtafeln wie "Rechtsabbiegen verboten" und "Stoppt die braune Gefahr!" mahnten sie vor einer Renaissance faschistischer Kräfte auf dem Territorium der DDR und wandten sich zugleich gegen eine Vereinnahmung des Landes durch die BRD.

Freiheit, Gleichheit. Brüderlichkeit plus soziale Gerechtigkeit bezeichnete der Schriftsteller Stefan Heym als Inhalte des Sozialismus. Das sagte er am Sonnabend auf einer von der "Initiativgruppe Wissenschaft" der Akademie der Wissenschaften vorbereiteten Kundgebung im Berliner Lustgarten. "Sozialismus ist nicht die Diktatur eines Apparates über das Leben der Menschen, nicht die Unterdrückung der Wünsche und Gedanken des Volkes."

Stefan Heym wandte sich dagegen, dass jetzt auf einem Stück deutschen Bodens, auf dem ein demokratischer Sozialismus versucht werde, alles so mir nichts dir nichts aufgegeben werden solle.

Den Einsatz aller moralischen, geistigen und körperlichen Kräfte, um nicht von jenen aufgesaugt zu werden, „die 40 Jahre erfolgreicher arbeiten konnten als wir, forderte Rainer Eppelmann vom Demokratischen Aufbruch. Es gelte jetzt das, was viele als sympathische Revolution bezeichnen, gewaltfrei fortzusetzen.

Weitere Redner sprachen sich dafür aus, den Sozialismus in der DDR als Alternative zum Kapitalismus zu erhalten. Der Philosoph Rudolf Bahro, der seine Wiedereinbürgerung beantragen will, sieht in der selbständigen Entwicklung der DDR die einmalige Chance für eine menschliche und ökologische Zukunft.

Die Betriebsrätin Brigitte Ziegler von der Westberliner IG Metall warnte vor der Illusion, die Monopole wollten der DDR "helfen", es gehe ihnen ganz einfach um Kauf. Sie träumten schon vom "gesamtdeutschen Reibach". Die Gewerkschafterin verwies auf die 90 000 Arbeitslosen allein in Westberlin, die durch Schwarzarbeit von Grenzgängern aus unserem Teil der Stadt um ihre Zukunftsaussicht gebracht würden.

Dem Motto "Vorausdenken und Handeln - damit es eine Zukunft gibt" wurde die Kundgebung nur bedingt gerecht Diesen Eindruck von Journalisten bestätigte auch Ralf Köchert, Sprecher der "Initiativgruppe Wissenschaft". Auch hier stellte sich die Frage, wie die Organisatoren verhindern können, dass ihr Anliegen unterlaufen wird. Denn anders als die meisten Redner beschäftigten sich viele der allenfalls 4 000 Kundgebungsteilnehmer offenbar nicht mit neuen Sozialismuskonzepten, sondern übernahmen kritiklos Wiedervereinigungslosungen.

So. 10.12.
Gegen Ausländerfeindlichkeit und für Menschenrechte in der DDR und anderen Ländern demonstrierten am Sonntag mehrere hundert Bürger in Berlin. Sie waren einem Aufruf des Neuen Forums gefolgt. Am Platz der Akademie sprachen mehrere Bürger, so aus der ČSSR, der UdSSR, Rumänien und der DDR, zu den Versammelten. Gefordert wurden Rechtsreformen, mehr Rechte für Kinder und ältere Bürger sowie eine Rechtsstaatlichkeit in der DDR.

Ihre Solidarität mit allen um Menschenrechte Kämpfenden bekundeten am Sonntag, dem UNO-Tag der Menschenrechte, schätzungsweise 15 000 Bürger in Ilmenau. Der Arzt Hartmut Krauße vom Neuen Forum betonte, dass es jetzt darauf ankommt, in friedlichem Miteinander für die demokratische Erneuerung auf der Grundlage freier Wahlen zu wirken. Vor dem Aufkommen des Neofaschismus in der DDR warnte eindringlich der Mathematiker Pedro Hertel (Neues Forum). Drohungen gegen ehemalige Mitarbeiter der Staatssicherheit hätten nichts mit der Bewegung des Volkes gemein.

Das Neue Forum hatte in Cottbus zu einer Kundgebung anlässlich des internationalen Tages für Menschenrechte aufgerufen. Die Teilnehmer forderten die Herstellung rechtsstaatlicher Verhältnisse. Sprecher der Bürgerinitiative mahnten zu Ruhe und Besonnenheit im Prozess der demokratischen Erneuerung.

Für die Verwirklichung der UNO-Menschenrechte demonstrierten auch rund 5 000 Bürger in Suhl. Sie zündeten Kerzen an und brachten Spruchbänder gegen den Stalinismus an.

In Erfurt wird gegen geplante Abrisse im Andreasviertel und für den Erhalt von alter Bausubstanz demonstriert. Um das Viertel bildet sich eine Menschenkette. Es werden Unterschriften gegen den Abriss und für den Erhalt gesammelt.

Auf der vom Neue Forum aufgerufen Demonstration in Berlin wird Solidarität mit dem rumänischen Volk bekundet. Es wird sich gegen Rassismus in der DDR, besonders gegen Polen ausgesprochen. Außerdem wird die Streichung des politischen Strafrechts eine umfassende Strafrechtsrechtsreform gefordert.

Vor 15 000 Plauener Bürgern meldeten sich 14 Redner vom Neuen Forum, der Bürgerinitiative "Gruppe der 20", der "Grünen Sozialistischen Partei" und anderer Organisationen sowie Parteilose zu Wort.

Die Überführung des in der Nähe von Laage gelegen Militärflugplatzes Kronskamp in eine zivile Nutzung wird von Demonstranten gefordert.

Demonstrationen finden in Dresden, Magdeburg, Rostock und Suhl statt.

Mo. 11.12.
In mehreren DDR-Bezirksstädten fanden am Montagabend Demonstrationen statt. Die 10. Montags-Demonstration Leipziger Bürger zur demokratischen Erneuerung der Republik nach dem 7. Oktober vereinte über 100 000 Menschen. Wegen der in den vergangenen Tagen durch neu aufgedeckte Fälle von Amtsmissbrauch und Bereicherung angewachsenen Spannung und Empörung der Bevölkerung warnten zahlreiche Demonstranten vor Selbstjustiz und ausufernden Übergriffen. Viele riefen zu Besonnenheit und demokratischem Verhalten auf. Auf Flugblättern wurde der Sinn eines vereinigten Deutschlands angezweifelt Sprechchöre entgegneten: "Deutschland, einig Vaterland!" Diesen Slogan trugen auch zahlreiche Transparente. Bürger unterschiedlicher Herkunft meldeten sich mit verschiedenen Zielen zu Wort. Einig waren sie sich, dass die begonnene Revolution friedlich weitergeführt werden solle. In Dresden beteiligten sich 90 000 und in Karl-Marx-Stadt rund 40 000 Bürger an Demonstrationen.

In Luckau wird nach der Demonstration eine Kundgebung auf dem Marktplatz abgehalten. Gefordert werden u.a. allgemeine, freie, gleiche und geheime Wahlen. Es wird sich gegen eine Verschleppung des gesellschaftlichen Erneuerungsprozesses ausgesprochen.

In Leipzig fordert ein größerer Teil "Deutschland einig Vaterland" und eine Minderheit setzt sich für den Fortbestand einer reformierten DDR ein. Als Vera Lengsfeld auf der Kundgebung die Ängste die in Großbritannien gegen eine Vereinigung der beiden deutschen Staaten bestehen erwähnt, wird sie ausgepfiffen.

Auf der Kundgebung vor der Demonstration in Karl-Marx-Stadt wird die endgültige Auflösung des Amtes für Nationale Sicherheit und der Kampfgruppen gefordert. Eine Volksabstimmung zur deutschen Einheit wird befürwortet. Schwarz-rot-gelbe, (Gold in der Fahne lässt sich schlecht machen) und "Sachsenfahnen" sind zu sehen. Transparente mit der Aufschrift "Deutschland einig Vaterland" werden mitgeführt.

Auch in Wismar wird die Forderung nach einem einigen Deutschland erhoben.

Ein Schweigemarsch endet in Hennigsdorf bei Berlin an der katholischen Kirche. Dort findet eine Dialogveranstaltung statt.

Auf einer Demonstration in Frankfurt wird die Bildung von Runden Tischen in den Betrieben und im Staatsapparat gefordert.

Demonstrationen gibt es auch in Berlin, Bernburg, Halle, Heiligenstadt, Neubrandenburg, Potsdam und Schwerin.

Di. 12.12.
In Schwerin demonstrieren Menschen mit Behinderung unter der Losung, auch wir sind das Volk. Auch wir wollen sagen was wir zu sagen haben. Wir stehen im Abseits, das muss sich ändern.

Demonstriert wird in Nordhausen.

Rund 2 000 Volkspolizisten waren gestern Abend dem Aufruf einer Initiativgruppe Gewerkschaften der Berliner Volkspolizei gefolgt. Vor dem Gebäude des Innenministeriums begründeten Sprecher unter Beifall die Notwendigkeit einer gewerkschaftlichen Interessenvertretung.

Vor allem soll ein normales Arbeitsrechtsverhältnis für VP-Angehörige durchgesetzt werden, das Willkürentscheidungen im Rahmen des gegenwärtig noch bestehenden militanten Dienstverhältnisses und der damit verbundenen bedingungslosen Unterordnung unter Befehle der Polizeiführung ausschließt. Die Kundgebungsteilnehmer - unter ihnen auch Polizisten aus anderen Bezirken der Republik - verwiesen auf zahlreiche Ordnungseinsätze in jüngster Zeit. Sie richteten sich gegen demonstrierende Bürger, die für die Erneuerung der sozialistischen Gesellschaft eintreten.

Diese Vorgänge, insbesondere auch um den 7. und 8. Oktober, hätten die Polizeiangehörigen in einen tiefen Konflikt mit dem Volk gebracht, was sie als großes Unrecht empfinden. Man sei auf die falsche Seite der Barrikade befohlen worden. Nach wie vor werde die Aufklärung der Vorgänge durch Stäbe des Innenministeriums zögernd und halbherzig betrieben. Gegenüber diesen Führungsorganen bestehe tiefes Misstrauen.

Die angestrebte Polizeigewerkschaft möchte sich unter einem gewerkschaftlichen Dachverband aller Werktätigen für die umfassende Sicherung von Dienst-, Arbeits- und Lebensbedingungen einsetzen. Unter starkem Beifall sprachen sich die Versammelten für eine sozialistische DDR aus.

Mi. 13.12.
In verschiedenen Städten, so u. a. in Berlin und Stralsund finden Demonstrationen von Schülern, Eltern und Lehrern für konkrete Veränderungen im Bildungswesen statt. Unter anderem werden eine neue Bildungskonzeption und fakultativer Russischunterricht gefordert.

Mehrere tausend Schüler, Eltern und Lehrer forderten am Mittwoch auf einer Kundgebung in Stralsund zu konkreten Schritten für die Erneuerung des Bildungswesens auf. Initiator des Treffens war der neugegründete Schülerrat in der Stadt. Wie dessen Vorsitzender, Jan Westphal, Schüler an der Hermann-Matern-Oberschule, erklärte: wenden sich die Schüler entschieden gegen Meinungen, Lehrer, die SED-Mitglieder sind, sollten die Schulen verlassen. "Das kann nicht die Wende sein!" hieß es in einem Aufruf. Aus dem Schuldienst dürften nur Lehrer gehen, die nicht fähig sind, Schüler fachlich und pädagogisch zu bilden.

Für ein besseres Schulsystem demonstrierten rund tausend Berliner Schüler, Pädagogen und Eltern gestern vor dem Haus des Lehrers. Redner von 5 bis 50 Jahren kamen auf der von der Pädagogikgruppe des Neuen Forums und einer Initiativgruppe Neue Schule" organisierten Veranstaltung zu Wort. Sie forderten übereinstimmend einen fakultativen Russisch-Unterricht und eine neue Bildungskonzeption. Ziel müsse eine von Bevormundung freie, kindgerechte Schule sein, sagte der Kinderpsychologe Berndt Schemmel.

Do. 14.12.
Demonstrationen finden in Dresden, Erfurt, Magdeburg und Rostock statt.

Das Nichterscheinen des eingeladenen Leiters der Kreisdienststelle Nordhausen der Staatssicherheit zu einer Diskussionsrunde über die Staatssicherheit löst Empörung aus.

Fr. 15.12.
Rund 300 Menschen hatten sich gestern vor der Pankower Kirche versammelt, um gegen Menschenrechtsverletzungen in Rumänien zu protestieren. Die Veranstaltung war vom Berliner Verband der Bildenden Künstler und weiteren Gruppierungen organisiert worden. Die Demonstranten forderten die verstärkte Einflussnahme der DDR auf die Geschehnisse in dem Land.

Sa. 16.12.
In Plauen findet die inzwischen obligatorische Samstagsdemonstration statt.

So. 17.12.
In Saßnitz demonstrieren Angehörige der Volksmarine und der Grenzbrigade Küste gegen die schleppende Reform in den bewaffneten Organen.

Mo. 18.12.
Superintendent Friedrich Magirius und Gewandhauskapellmeister Prof. Kurt Masur haben sich in zwei kurzen Erklärungen, die heute zur Demonstration in Leipzig als Flugblatt in Leipzig verteilt werden, an die Bürger der Stadt gewandt.

Kurt Masur weist darauf hin, dass der Ausgangspunkt der großen Bewegung, die in Leipzig entstand, die Nikolaikirche gewesen ist. "Und wenn Superintendent Magirius aufgerufen hat", schreibt er weiter, "am Montagabend der Menschen zu gedenken, die Opfer der zurückliegenden Jahrzehnte wurden, so sollte uns gleichzeitig auch bewusst sein, dass Weihnachten ein Fest der Hoffnung ist. Ganz Europa hofft mit uns, dass die Weiterführung der Leipziger Montags-Demonstrationen ab 8. Januar genauso friedlich verläuft und damit die große Idee eines vereinten Europas verwirklicht werden kann. Wir Deutschen werden auf diese Weise ganz natürlich zusammenwachsen und das Vertrauen unserer Nachbarn erhalten."

In der Erklärung von Superintendent Magirius heißt es: "Die Kirchen und Vertreter der demokratischen Gruppierungen bitten Sie alle ganz herzlich, entlang der Straßen, die wir zehnmal demonstrierend gezogen sind, einen Ring von Menschen zu bilden. Mit Kerzen in den Händen wollen wir von 18.15 Uhr bis 18.30 Uhr einige wenige Minuten schweigend gedenken der Opfer der Gewalt und geistiger Unterdrückung unter stalinistischer Herrschaft, der Ereignisse des Herbstes 89, der Inhaftierungen, des gewaltlosen Widerstandes und des Beginns demokratischer Erneuerung."

Leipzig. Brennende Kerzen, Fackeln und Lampions in den Händen von über 150 000 Leipzigern bestimmten statt Transparenten und Sprechchören das Bild in der Innenstadt. Damit entsprachen die Bürger überwiegend einem gemeinsamen Aufruf des Gewandhauskapellmeisters Prof. Dr. Kurt Masur und Superintendenten Friedrich Magirius. In dem Appell, der noch einmal über den Stadtfunk verlesen wurde und dem sich auch zahlreiche politische Gruppen und Initiativbewegungen angeschlossen hatten, war ein stiller Abschluss der 89er Leipzig-Demos angeregt worden. Die Messestädter gedachten auf diese friedfertige Weise der Opfer der Gewalt und geistiger Unterdrückung unter stalinistischer Herrschaft. Wie im Aufruf formuliert, wurde so auch an die Ereignisse im Herbst dieses Jahres, an die Inhaftierungen, den gewaltlosen Widerstand und den Beginn der demokratischen Erneuerung erinnert.

Bevor der mehrere Kilometer lange innerstädtische Ring in das Lichtermeer tauchte, hatten in fünf Gotteshäusern traditionelle Friedensgebete stattgefunden. Um 18.20 Uhr läuteten die Glocken der Kirchen Leipzigs. Zu diesem Zeitpunkt schloss sich die Menschenkette um die City der Messestadt, der Verkehr kam in diesem Bereich vollständig zum Erliegen. In den verharrenden Zug der Demonstranten hatte sich auch die Vizepräsidentin des BRD-Bundestages und SPD-Politikerin Annemarie Renger eingereiht. Auf dem traditionellen montäglichen Kundgebungsplatz der Leipziger vor dem Opernhaus schlossen sich einige Gruppen von Bürgern nicht dem Schweigemarsch an. Sie forderten auf Transparenten die sofortige Wiedervereinigung beider deutscher Staaten und diskutierten darüber hitzig mit Andersdenkenden.

Berlin. Mit einem Schweigemarsch gedachten im Berliner Zentrum einige hundert Demonstranten der Opfer des Stalinismus in der DDR. Mit Kerzen zogen die Frauen und Männer vom Alexanderplatz vorbei am Roten Rathaus vor den Palast der Republik. Die Nutzung von Gebäuden und Einrichtungen des ehemaligen MfS für medizinische Zwecke forderten in Berlin Mitarbeiter des Oskar-Ziethen-Krankenhauses. Etwa 150 Demonstranten, denen sich Passanten anschlossen, machten auf die katastrophalen hygienischen Zustände für Patienten und Mitarbeiter in dieser medizinischen Einrichtung aufmerksam.

Halle. Weniger Teilnehmer als sonst hatte die in diesem Jahr letzte Demonstration in Halle, der sich eine von der Grünen Partei und der Gruppe Demokratie jetzt organisierte Kundgebung anschloss. Die Meinungen entzündeten sich vor allem an der Frage nach dem Weg zu einem vereinigten Deutschland. Wie bereits mehrmals zuvor konnten Sprecher der Vereinigten Linken ihre Gedanken nicht zu Ende vortragen. Sie wurden von Teilnehmergruppen ausgepfiffen. Einmütig wandten sich die Kundgebungsteilnehmer gegen die Niederknüppelung friedlicher Demonstranten in Rumänien.

Demonstrationen finden in Dresden, Karl-Marx-Stadt, Potsdam und Schwerin statt.

Demokratie Jetzt und Neues Forum rufen in Senftenberg zu einer Demonstration auf. Bürger sollen sich mit Hinweisen und Vorschlägen an der Arbeit des am nächsten Tag zum ersten Mal zusammentretenden Runden Tisches beteiligen.

Jede politische Gruppe solle in Zukunft eigene Demonstrationen machen. Das wurde auf der Demonstration in Dresden vom Neuen Forum vorgeschlagen. Damit solle Gewaltlosigkeit gesichert werden. Hintergrund ist die zunehmenden Auseinandersetzung zwischen Befürwortern und Gegnern einer Einheit der DDR mit der Deutschen Bundesrepublik.

Di. 19.12.
Rund 20 000 Bürgern haben sich zur Ankunft Bundeskanzler Helmut Kohl am Flughafen Dresden-Klotzsche eingefunden. Auch vor dem Hotel "Bellevue" haben sich Bürger zu Begrüßung eingefunden. Es sind Hochrufe auf Helmut Kohl zu hören. Und "Deutschland einig Vaterland".

In Dresden findet das deutsch-deutsche Gipfeltreffen zwischen den von Bundeskanzler Helmut Kohl bzw. Ministerpräsident Hans Modrow geleiteten Delegationen der Regierungen der BRD und der DDR statt.

Nach der offiziellen Verabschiedung wendet sich Bundeskanzler Kohl an Zehntausende DDR-Bürger, die sich in Dresden versammelt haben. Der Bundeskanzler beschwor dabei die "Einheit der Nation", die für ihn politisches Ziel bleibe. Das Bild auf dem Platz an der Ruine der Frauenkirche war von Fahnen der Bundesrepublik bestimmt, die Atmosphäre vom Vereinigungsgedanken beherrscht.

Zur Kundgebung vor der Ruine der Frauenkirche spricht Helmut Kohl vor ca. 20 000 Teilnehmern. Es sind "Deutschland", "Deutschland" Rufe und "Deutschland einig Vaterland" zu hören.

Gegenüber Bürgern, die mit DDR-Fahnen und "DDR-unser Vaterland" rufen, erschallt der Ruf "Rote raus" "Rote raus".

"Mein Ziel bleibt, wenn es die geschichtliche Stunde es zulässt, die Einheit unserer Nation", sagte Kohl dort.

Vertreter aus der DDR sprechen auf der Kundgebung nicht.

Auf dem Theaterplatz in Dresden verlesen Mitglieder der Vereinigten Linken einen Brief an Hans Modrow Helmut Kohl. Es werden die rechtlichen Grundlagen für einen Volksentscheid zur Entmilitarisierung beider deutscher Staaten gefordert.

Zu einer Kundgebung "Für den Erhalt der Souveränität der DDR! Gegen Ausverkauf und Wiedervereinigung!" versammelten sich am Dienstagabend rund 50 000 junge Menschen auf dem Berliner Platz der Akademie vor dem Schauspielhaus. "Unsere Hoffnung DDR", "Wir wollen keine Großdeutsche REPublik" und "Drei Reiche reichen" war auf den zahlreichen Transparenten zu lesen, die aus der dicht gedrängt stehenden Menge emporgehalten wurden. DDR-Fahnen bestimmten das Bild auf dem Platz. Immer wieder erschollen Sprechchöre: "Nazis 'raus!" und "DDR, wir baun' dich neu!"

Zu der Kundgebung, der eine Demonstration durchs Zentrum der DDR-Hauptstadt vorangegangen war, hatten Bürgerbewegungen aufgerufen. Es gehe darum, dass dieses Land bleibt, und niemand außer uns selbst entscheidet, wie es bei uns weitergeht, wurde zur Eröffnung der Veranstaltung unter starkem Beifall festgestellt. Zustimmung fand der Vorschlag für einen Verfassungsgrundsatz, den Wolfgang Wolf (Vereinigte Linke) vortrug. "Die DDR ist ein antifaschistischer, demokratischer, sozialistischer Staat deutscher Nation", hieß es darin. Ein Pfeifkonzert schlug dem Redner der Bewegung "Demokratie Jetzt" entgegen, der Schritte zu einer Wiedervereinigung unterbreiten wollte. Die Anerkennung bestehender Grenzen in Europa verlangte Ingrid Köppe vom Neuen Forum. Eine Wiedervereinigung in den Grenzen von 1937 dürfe es nie geben. Seine Sorge über deutlich erkennbare Tendenzen des Neofaschismus drückte Mario Harmel von der Partei der Grünen aus. "Wir brauchen keinen großdeutschen Schrebergarten, wir wollen ein gemeinsames Haus Europa." Andre Türpe informierte, dass bisher 880 438 Bürger der DDR den Appell "Für unser Land" unterzeichneten.

"Wir dürfen keinen nationalen Taumel zulassen", sagte Gregor Gysi, Vorsitzender der SED-PDS, und bekam stürmischen Beifall dafür. Zweimal ging von "Großdeutschland" fürchterliches Leid in Europa aus. Es wäre eine Katastrophe, wenn Konflikte an den Grenzen schon wieder von den Deutschen begonnen würden. "Wir sind für Zusammenarbeit und Kooperation, aber gegen Abhängigkeit und Vereinnahmung. Wir brauchen unsere eigene Identität" Die sei doch nicht schlecht, nur weil wir eine korrupte Führung hatten. "Das war nicht das Volk!" Jetzt bestehe die Chance der Erneuerung. Man dürfe sich jedoch die Ziele nicht kaputtmachen lassen.

Während in Dresden Bundeskanzler Kohl umjubelt wird, demonstrieren mehrere tausend Bürger in Berlin für eine souveräne DDR, gegen Wiedervereinigung und Ausverkauf des Landes.

Demonstration in Berlin zum Kohlbesuch in Dresden

Anlässlich des Kohlbesuchs in Dresden wird in Rostock gegen die Wiederbelebung kapitalistischer Ausbeutungsverhältnisse in der DDR demonstriert. Befürwortet wird eine Vertragsgemeinschaft zwischen der DDR und der BRD und sich gegen eine Vereinigung ausgesprochen.

Demonstriert wird in Nordhausen.

Mi. 20.12.
Auf einer Kundgebung in Halberstadt tritt auch der Wolfsburger Oberbürgermeister auf. Halberstadt und Wolfsburg sind seit Herbst 1989 Partnerstädte.

Do. 21.12.
Demonstriert wird in Erfurt und Gera. In Erfurt wird dazu aufgerufen, das Bürgerkomitee bei der Sicherung des Aktenbestandes und der Gebäude des MfS zu unterstützen. Vor der rumänischen Botschaft in Berlin-Pankow findet eine Demonstration gegen das Ceauşescu-Regime statt. Es werden Parolen gerufen und es fliegen Farbbeutel gegen das Botschaftsgebäude. Vor der Botschaft gibt es eine Mahnwache.

Sa. 23.12.
In Berlin findet eine Solidaritätsdemonstration mit dem rumänischen Volk statt. Die Festnahme des rumänischen Staatschef Ceauşescu wird begrüßt und den vielen, die bisher während des Umsturzes getöteten, gedacht.

Nach einem Fürbittgottesdienst für die Opfer in Rumänien im Dom zu Brandenburg formiert sich ein Demonstrationszug. Eine zweitägige Mahnwache beginnt.

So. 24.12.
In Spremberg findet eine Solidaritätsdemonstration mit dem rumänischen Volk statt. Es wird der Opfer gedacht.

Wie in den Tagen zuvor besteht die Mahnwache vor der rumänischen Botschaft in Berlin weiter.

Mo. 25.12.
Rund 700 Karl-Marx-Städter waren am Abend des ersten Weihnachtsfeiertages dem Aufruf der Sozialdemokratischen Partei zu einer Kundgebung im Zentrum der Stadt mit anschließender Demonstration gefolgt. Redner der SDP sprachen sich für soziale Marktwirtschaft aus und erklärten sich sowohl von extrem links als auch von extrem rechts zu distanzieren.

Di. 26.12.
Für eine souveräne DDR wird in Schwerin demonstriert. Aufgerufen dazu hat die Initiativgruppe "Für unser Land".

Fr. 29.12.
In Weberstedt wird gegen den Truppenübungsplatz demonstriert.

Sa. 30.12.
Mehr als 2 000 Berliner protestierten am Samstagnachmittag im Vorhof zum sowjetischen Ehrenmal in Berlin-Treptow gegen antisowjetische und nationalistische Schmierereien. Die Verunglimpfung des Ehrenmals sei nicht identisch mit dem Denken und Fühlen gegenüber den Völkern der Sowjetunion, heißt es in einem Telegramm an Michail Gorbatschow, auf das sich die Teilnehmer der Veranstaltung einigten.

Mehrfach wurden Forderungen nach einer Solidar- oder Sicherheitsgemeinschaft gegen Ausländerfeindlichkeit, Faschismus und nationale Überheblichkeit sowie nach handlungsfähigen Schutzorganen laut. An die Regierung, Volkskammer, den Runden Tisch und an alle Bürger erging der Aufruf, dafür zu sorgen, dass neofaschistische Umtriebe im Keim erstickt werden. Die gesellschaftlichen Veränderungen in der DDR brauchten Sicherheit.

Betroffenheit und Empörung über die Schändung des sowjetischen Ehrenmals in Berlin-Treptow bekundeten Frauen aus Berlin, Westberlin sowie aus den Bezirken Frankfurt (Oder) und Potsdam bei einer Kundgebung am Mahnmal für die Opfer des Faschismus und Militarismus Unter den Linden. In ihrer aller Namen forderte DFD-Vorsitzende Eva Rohmann von der Regierung der DDR, dieses Verbrechen aufzuklären und eine Ausbreitung des Neonazismus im Lande zu verhindern.

Die "neuen oppositionellen Kräfte" beteiligten sich nicht an der Demonstration, da sie vermuteten, "alte Kräfte" wollten sie einbinden und benutzen für ihre Politik.


Alle Angaben sind Auszüge aus den Chronikseiten Dezember 1989 www.ddr89.de. Es wird kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben. Die Teilnehmerzahlen sind mit Vorsicht zu genießen. Niemand war in der Lage sie zu zählen.

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