Zu einer erneuten Demonstration treffen sich in Leipzig 150 000 BürgerInnen. Zuvor fanden in fünf Kirchen der Stadt Friedensgebete statt. Hauptforderung der Demonstranten ist die nach konsequenter Abrechnung mit den Schuldigen an der Staatskrise in der DDR und "Deutschland einig Vaterland!"
"Keine Gewalt" - am 4. November bekam diese Forderung eine besondere, ganz auf unsere politische Situation bezogene Bedeutung. "Keine Gewalt" - nur so können die Demonstrationen landauf, landab ihre Legitimation nachweisen, ihre Redlichkeit. Das ist von Zehntausenden begriffen worden. Um so mehr machen die Ausnahmen betroffen, die entweder nicht fähig sind, die Brisanz unserer Lage einzuschätzen oder die ganz bewusst das Feuerchen schüren, das auch friedliche Demonstrationen ins Gegenteil verkehren kann.
In den letzten Wochen war die Montagsstadt Leipzig positiv in den Schlagzeilen. Da gab es Forderungen, die dem Willen des Volkes entsprachen und die der Realismus prägt. Doch seit der vergangenen Demo ist das anders. Hier ein subjektiv geprägter Ablauf dieses Abends:
17.30. Die Friedensgebete haben in den Kirchen begonnen. Auf dem Innenhof der Karl-Marx-Uni im Stadtzentrum sammelt sich eine kleine Gruppe von Studenten, um mit Plakaten gegen Wiedervereinigung und Rechtsradikalismus zu demonstrieren.
17.45. Der Platz vor der Oper beginnt sich zu füllen. Dutzende Deutschlandfahnen werden geschwenkt.
Transparente mit Sprüchen wie: "Deutschland - einig Vaterland" oder "44 Jahre Teilung ist eine lange Zeit, zur Wiedervereinigung sind wir bereit" dominieren. Die Anti-Wiedervereinigungs-Gruppe wird mit Buh-Rufen und Sprechchören: "SED - das tut weh" oder "Rote aus der Demo raus" empfangen. Die Stimmung droht zu eskalieren. Vereinzelte Handgreiflichkeiten können geschlichtet werden.
18.00. Auf der Demo sprechen erstmals keine Vertreter von Parteien. Bürger aus Leipzig stehen vor dem Mikro. Sie haben von ihren abgesetzten Vorrednern, die von Kampfmanifestationen allerorten bekannt sind, gelernt. Eine leere Worthülse wird an die nächste gereiht. Jubel und Pfeifkonzerte wechseln ab. Dazwischen immer wieder Sprechchöre: "Wir sind Deutsch" und "Deutschland - einig Vaterland". Verschiedene Studenten und die auf dieser Demo kaum zu findenden Anhänger des NEUEN FORUMS versuchen die teilweise durch Alkohol aufgeputschte Menge zur Vernunft zu bringen. Ohne Erfolg. Wie in Ekstase werden Gegenstimmen niedergebrüllt und ausgepfiffen.
18.30. Der Zug setzt sich in Bewegung zum Hauptbahnhof. Unter wildem Freudengeheul wird ein metergroßer Galgen hin und her geschwenkt. Am Strick eine Tafel mit den Namen Honecker, Mittag und Tisch. Obwohl Jochen Läßig vom NEUEN FORUM vor der Menge bat, keine rivalisierenden Blöcke entstehen zu lassen, ist das eingetreten.
19.15. Die Menge ist am Staatssicherheitsgebäude angekommen. Die lebende Kette des NEUEN FORUMS kann die Massen kaum zurückhalten. Über Lautsprecher wird bekanntgegeben, dass seit 30 Minuten fünf Mitglieder von Oppositionsgruppen das Gebäude besetzt haben. Frenetischer Jubel. Der Menge ist das nicht genug. Alle wollen ins Stasigebäude. Dazwischen immer wieder die beruhigenden Worte des NEUEN FORUM. Eine Stunde später lassen die ersten Demonstranten von ihrem Vorhaben ab, während im Gebäude Fotografen und 30 Bürger die Versiegelung der Räume beaufsichtigen.
20.30. Auf dem Karl-Marx-Platz formiert sich eine Gegendemo mit DDR-Fahnen. Die wenigen Hundert finden kaum Beachtung. Einige ganz Mutige brüllen:
"Kommunistenschweine" oder "Euch hätte man bei Hitler vergast". So tolerant ist Leipzig in diesen Tagen. Sind die Angstdemos bis zum 9. Oktober schon in Vergessenheit geraten?
Weitere Demonstrationen finden in Karl-Marx-Stadt, Schwerin, Cottbus, Halle, Neubrandenburg, Magdeburg und Potsdam statt.
Demonstranten ziehen in Neubrandenburg vor das Redaktionsgebäude der SED-Bezirkszeitung "Freie Erde". Die Forderung ist, die Zeitung als Zeitung der Bürgerbewegung zu übernehmen. Es wurde schließlich vereinbart künftig eine Seite pro Woche für die Bürgerbewegung zur Verfügung zu stellen.
Ca. 300 Armeeangehörige im Bereich des NVA-Objekts Bad Frankenhausen begeben sich am Abend mit brennenden Kerzen vor das Stabsgebäude des mot. Schützenregiments. Es wurden Losungen gerufen wie "Schließt Euch an, wir wollen arbeiten, wir wollen in die Volkswirtschaft, Stasi raus". Während des rund einstündigen Gesprächs mit dem Kommandeur, kommen Probleme wie Durchführung von Reformen in den Streitkräften, Ankündigung der Gründung eines Soldatenrates zur Durchsetzung der Interessen der Wehrpflichtigen, Probleme der Dienst- und Lebensbedingungen, besonders mehr Urlaub, Verfehlungen einzelner Offiziere, sowie weitere Mängel im täglichen Dienst, zur Sprache.
Zu einer Kundgebung auf dem Zentralen Platz in Frankfurt versammeln sich mehrere tausend Menschen. Unterstützt wird der Aufruf "Für unser Land" und eine Vereinigung mit der BRD abgelehnt. Aufgerufen zu der Kundgebung hat die SED.