Ohne neue Erkenntnisse endete gestern im Haus der jungen Talente eine Gesprächsrunde Berliner Kulturschaffender, da bis auf Dr. Sabine Scharlau von der Kulturverwaltung des Magistrats alle weiteren geladenen kompetenten Gäste, unter ihnen OB Schwierzina, der Beratung fernblieben. Nun soll heute, 10 Uhr, vor dem Rathaus Schöneberg eine Protestkundgebung stattfinden.
Im Mittelpunkt des Streits steht der Magi-Senats-Beschluss vom 6. November über die Abwicklung mehrerer traditionsreicher Berliner Kultureinrichtungen. Bereits ab 15. Dezember ist die Funktions- und Spielfähigkeit solcher Stätten wie Tierpark, Sternwarte, Kulturpark, Puppentheater oder Distel nicht mehr gewährleistet, da die Mitarbeiter in den Wartestand versetzt werden. Die Kopflosigkeit zuständiger Kulturfachleute im Magistrat und Senat wird am Beispiel der Kulturakademie deutlich. Dieses Bildungszentrum, welches als einziges in Berlin vom Arbeitsamt anerkannte und geförderte Fortbildungs- und Umschulungsangebote für arbeitslose Mitarbeiter künstlerischer Bereiche realisiert, soll ebenfalls abgewickelt werden.
Dr. Scharlau bezeichnete eine Überführung der Kulturstätten in landeseigene Gesellschaften als "bestmögliche Variante". Statt der von den Gewerkschaften genannten Zahl von mehr als 2 500 zu Entlassenen seien dann nur "einige hundert" zu erwarten. Die alten aufgeblähten Stellenplane konnten jedoch auf keinen Fall erhalten bleiben.
Gegenstand der heutigen Kundgebung sind die Rücknahme des Beschlusses, vertragliche Vereinbarungen mit den Personalraten und eine Garantie, eventuelle Personalveränderungen erst nach Überführung der Einrichtungen in eine andere Rechtsträgerschaft vorzunehmen.
Mathias Frankenstein
(Berliner Zeitung, Di. 27.11.1990)
Berlin. BZ – M. Emmerich "Sofortige Rücknahme des Beschlusses oder Arbeitskampf", so kurz und bündig fasste gestern morgen der Ortsvereinsvorsitzende der IG Medien Berlin-Mitte, Michael Fischer, die Forderung von mehreren hundert Mitarbeitern aus 16 sogenannten nachgeordneten Kultureinrichtungen im Ostteil der Stadt zusammen. Sie hatten sich vor dem Rathaus Schöneberg versammelt, um von Kulturstadträtin Irana Rusta Auskunft über die Zukunft ihrer Arbeitsplätze zu erhalten.
Obwohl die Stadträtin immer wieder versicherte, dass die von der Landesregierung vorgesehene "Abwicklung" lediglich die Überführung in eine andere Rechtsform vorsehe, wurde sie mit Rufen wie "Lüge" oder "Abtreten" überhäuft. Der überraschend auftauchende CDU-Landes- und Fraktionsvorsitzende Eberhard Diepgen hatte es einfacher. Er versprach, dass ein möglicher neuer Senat den Beschluss der Landesregierung vom 6. November zurücknehmen werde.
(Berliner Zeitung, Mi. 28.11.1990)
Gestern Mittag versammelte sich vorm Rathaus Schöneberg eine erregte Menge Ostberliner Kulturschaffender. JW fragte Gewerkschaftssekretär Jochen Lesching.
Warum rufen ÖTV und IG Medien zum Protest auf?
Laut MagiSenatsbeschluss vom 6. November schickt man 2 560 Kollegen in die "Warteschleife". Betroffen sind zum Beispiel Friedrichstadtpalast, Metropol-Theater, "Distel", Haus der Jungen Talente, sogar unsere Umschulungseinrichtung, die Kulturakademie. Mit so beschnittenen Stellenplänen kann auch ein Unternehmen wie der Tierpark nicht weiterarbeiten. Für uns ist das einfach der Versuch, sich unliebsamer Leute zu entledigen. Die Kulturszene ist den Politikern zu demokratisch. Sie hat sich zu sehr in freier Meinungsäußerung geübt.
Was unternehmen Sie gegen die geplanten "Abwicklungen"?
Herr Momper bekommt unsere Forderungen auf den Schreibtisch: Personalveränderungen dürfen erst nach Überführung in neue Rechtsträgerschaft vorgenommen werden. Wir fordern sichere Sozialpläne, Rationalisierungsschutz, keine Ausnutzung rechtsfreier Räume gegen uns. Und die Landesregierung soll endlich offenlegen, nach welchen Kriterien Einrichtungen überhaupt überprüft werden.
Interview: Jörg Jäger
(Junge Welt, Mi. 28.11.1990)