So. 4. November 1990
Soll'n wir jetzt draußen stehn?
Er war wie ein Neubeginn, der 4. November 1989: Demonstration für freie Rede, freie Presse, freie Medien. Und dass es um viel mehr ging, bewiesen die vielen, die gekommen waren mit Schildern und Transparenten, und jene, die diese Demonstration ins leben gerufen hatten: die Künstlerverbände der ehemaligen DDR. Für morgen nun hat der "Runde Tisch von unten" erneut zu einer Demonstration aufgerufen. Tamara Danz von "Silly" gehört zu denen, die sich auch in diesem Jahr beteiligen.
Weißt du noch das Gefühl vom 4. November du vorigen Jahres?
Wir brauchten, um diese Demo zu organisieren, fast den ganzen Oktober. Wir haben das ja richtig ordentlich angemeldet. Nur gab erhebliche Einwände aus „Sicherheitsgründen“. Aber inzwischen war sie schon nimmt mehr aufzuhalten. Alle Künstlerverbände hatten sich ja zu Wort gemeldet.
Da wart ihr ja mit der Rocker-Resolution die ersten . . .
Bei der Situation damals - man brauchte das Land ja nur noch zu überdachen und zur geschlossenen Anstalt auszurufen. Damals haben wir uns gesagt: Freie Medien sind jetzt am wichtigsten, um die Diskussion über nötige Veränderungen öffentlich führen zu können. Es war ja euch interessant zu erfahren, ob sich höhergestellte Persönlichkeiten der Problematik überhaupt bewusst waren.
Diesmal sind es nicht die Künstlerverbände, sondern der "Runde Tisch von unten", der zur Demonstration aufruft. Ihr seid aber trotzdem dabei?
Das Ulkige ist ja, jetzt klopfen sich alle möglichen Politiker aus CDU und Kirchenkreisen auf die Schulter, wie revolutionär sie doch vor einem Jahr waren. Aber die, die es eigentlich angeschoben haben, sind jetzt so gut wie draußen. Von denen redet keiner mehr.
Aber die Leute vom Runden Tisch von unten haben uns gefragt, ob wir mitmachen. Natürlich. Pension Volkmann hat zugesagt, Angelika Weiz, Gruppen aus Spanien und Portugal. Wir sind an der Stirnseite des Hotels "Stadt Berlin" zu finden.
Interview: Thomas Otto
(Junge Welt, Sa. 03.11.1990)
Berlin (ND-Stemmler). Ein Jahr nach jener denkwürdigen Demonstration auf dem Alexanderplatz am 4. November 1989 hatte der "Runde Tisch von unten" zur Kundgebung auf dem Alex eingeladen. Tausende waren gekommen. Das Motto hatte eine neue Dimension: "Für gleiche soziale Rechte in Deutschland". Transparente verwiesen auf die Gegenwart: "Neue Bonzen hat das Land", "4. 11. Wieder nicht frei, jetzt Knechte des Kapitals", "Suche Job als Minister ohne Geschäftsbereich".
Bärbel Bohley, die diesmal als eine der Initiatoren des "Runden Tischs von unten" sprach, resümierte: "Was haben wir vor einem Jahr gefordert? Demonstrationsfreiheit. Heute können wir demonstrieren, soviel wir wollen, aber wir werden schon als Pöbel bezeichnet. Pressefreiheit. Alle Zeitungen können wir lesen, aber über unsere wirklichen Probleme steht wenig drin. Meinungsfreiheit. Wir können alles sagen, aber oft schweigen wir, weil wir wieder denken, die Aufmüpfigen werden zuerst entlassen. Reisefreiheit. Wir können fahren, wohin wir wollen, aber das Geld fehlt uns. Die Stasi ist enthauptet worden, aber das bedeutet noch lange nicht, dass wir unsere Geschichte durchschauen. Täglich tun wir ihr Gewalt an, gestern nennen wir uns alle Schuldige, heute nennen wir uns alle Opfer . . . ". Jeden Tag würde die Erfahrung gemacht, dass diese Revolution noch lange nicht zu Ende ist.
Die Einordnung von Angestellten des öffentlichen Dienstes in eine sogenannte Warteschlange bezeichnete die Vertreterin der IG Medien, Ruth Martin, als Zwang zu einem Gang auf den Knien oder auf dein Bauch. Das widerspreche dem Grundgesetz, was zeige, dass die Demokratie im Vergleich zum Grundgesetz verkommen sei. "Germania, die Wiederbeatmete, ist wieder keine Frau, nur ein Held", meinte eine Vertreterin des Unabhängigen Frauenverbandes. Schon die Tatsache, eine Gebärmutter zu haben, verringere die Chancen auf dem Arbeitsmarkt.
Nur wer nicht handelt, hat bereits verloren, betonte Klaus Grehn vom Arbeitslosenverband. Der Rektor der Humboldt-Universität, Prof. Heinrich Fink: "Ohne Demokratie von unten gibt es keine Veränderung von oben, allenfalls eine Katastrophe von oben." Einer der Führer der portugiesischen Nelkenrevolution, Otelo de Carvalho, Ehrenpräsident des Europäischen Bürgerforums, rief die 74er Ereignisse in seinem Heimat wach. "Sind die Ergebnisse auch weit von den Zielen der Revolution entfernt, die Ideale leben weiter", sagte er. Wolfgang Ullmann, der Nestor der DDR-Bürgerbewegungen rief dazu auf, nicht nur in Erinnerungen zu schwelgen, sondern auch weiterhin mitzugestalten. Schließlich polemisierte die Schauspielerin Käthe Reichel gegen die Politiker, die die jetzige Misere, die "Krause Maizière" geschaffen, das Land "verkauft, verschachert, verraten" hätten. Sie warnte, dass sich das Volk des Satzes wieder erinnern werde, mit dem es vor einem Jahr einen Staat gestürzt habe: "Wir sind das Volk".
Bereits am Vortage hatte der Alex die Abschlusskundgebung der Demonstration "Der Tod ist ein Meister aus Deutschland" erlebt. Erinnert wurde an die Geschehnisse der sogenannten Reichskristallnacht. Die Teilnehmer warnten vor neuerlichen Tendenzen des Rassenwahns und des Nationalismus in Deutschland.
(Neues Deutschland, Mo. 05.11.1990)
Heiner Müller verlas am 04.11.1989 auf der Kundgebung auf dem Alexanderplatz ein "Aufruf der Initiative für Unabhängige Gewerkschaften. Inzwischen in Initiative kritische Gewerkschaftsarbeit umbenannt.
Die Initiative kritische Gewerkschaftsarbeit meldete beim Runden Tisch von unten ihren Redebeitrag an. Dazu schreibt sie in der Berliner Zeitung am 14.11.1990: "Aber siehe da: kein Verständnis für unser Anliegen, dagegen Zweifel, ob man schon wieder (!?) Gewerkschaftsleitungen kritisieren sollte, ob das 'einfach Volk' überhaupt verstünde, wovon man rede . . ."
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Veranstaltung "4. November - nicht vergessen"
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Berlin (ND/ADN). "4. November - nicht vergessen" war am Sonntag das Motto für vielfältige Veranstaltungen und Begegnungen im Haus der jungen Talente in der Berliner Klosterstraße. Eingeladen hatten dazu das Europäische Bürgerforum und das Jazz-Büro. Von nachmittags bis weit nach Mitternacht Gedränge in Sälen und Foyers, an Buchständen, bei Foren und musikalischen Darbietungen der verschiedensten Art.
Unter den Künstlern, die das Hausfest unterstützten, waren Kabarettisten von der "Distel", das Gitarren-Duo Frank Hill und Thomas Günter, Angelika Weiz, Die Zöllner sowie die Gruppe Keimzeit. Vertreten waren auch der Buchverlag Der Morgen, der Verlag der Nation sowie das Ernst-Busch-Haus.
Im Saal und im Foyer rief ein Videofilm noch einmal die Demonstration der 500 000 im November vorigen Jahres in Erinnerung.
Zum Nachdenken über die Lage der Nation fand sich am späten Abend eine internationale Gesprächsrunde zusammen. 40 Jahre DDR-Geschichte dürften nicht aus Angst, Abwehr und Unkenntnis durchgestrichen oder dämonisiert werden, so die Schriftstellerin Christa Wolf. Pfarrer Friedrich Schorlemmer sagte, die jetzt erreichte Demokratie, über die er froh sei, benötige "Demokraten, die sie jetzt mit Leben erfüllen und ihren politischen Willen artikulieren. Der Staat braucht Bürgerbewegungen genauso wie Parteien". In diesem Zusammenhang würdigte er die Besetzer der ehemaligen Stasi-Zentrale in Berlin, die "für das kämpften, was uns allein gehört".
Großen Beifall im überfüllten Saal des Hauses erntete Stefan Heym, als er sagte: "Es sind doch immer noch die gleichen, die das Sagen haben, wenn nicht die gleichen Personen, so doch die gleichen Typen." Das Nachsehen hätten jene, die die Revolution gemacht hätten. Erinnernd an die Ereignisse in der Ex-DDR, meinte Heym, "es gab keine Konzeption, man wusste, was man nicht wollte, aber nicht, was man wollte". Die fehlende Konzeption sei darin von Helmut Kohl nachgeliefert worden, und "das Volk ging nach Hause".
Nach Heyms Ansicht habe sich die Revolution bald nach dem Mauerfall in ihr Gegenteil verkehrt, eine Restauration des Kapitalismus. Dass es unter den Bedingungen der Marktwirtschaft viel zu verlieren gäbe, insbesondere ideele Werte, stellte der sowjetische Schriftsteller Daniil Granin zur Diskussion.
(Neues Deutschland, Di. 06.11.1990)
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Die Naturfreunde
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Pirna (lsc) Die Vorsitzenden und die Finanzminister" der fast 50 Ortsgruppen des Touristenvereins "Die Naturfreunde e.V." in den Neu-Bundesländern trafen sich in Gohrisch in der Sächsischen Schweiz zum Austausch erster Erfahrungen. Mitglieder der Leitung des Landesverbandes Bayern der Deutschen Naturfreunde-Bewegung vermittelten ihnen die praktische Anwendung des Vereinsrechts sowie Informationen zur Steuer und Versicherung.
Auf der Tagesordnung standen auch Informationen zur Rückgabe des früheren Eigentums der Naturfreunde-Ortsgruppen. Die 1933 verbotene Organisation verfügte auch auf dem Territorium der neuen Bundesländer über viele eigene Häuser und Touristenunterkünfte, die fast alle von den Mitgliedern selbst gebaut worden waren. Dort fanden besonders Familien mit geringen Einkünften Möglichkeiten zur Erholung.
In den westlichen Bundesländern war die Rückgabe des Naturfreunde-Eigentums bis zum Anfang der 50er Jahre abgeschlossen. Eine Ortsgruppe in Dresden trug dazu bei, dass unter Einschaltung der Bundesregierung Eigentumsansprüche geltend gemacht werden konnten.
(Der Morgen, Di. 06.11.1990)
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CDU-Generalsekretär fordert sofortige Sperrung aller Konten der PDS
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Bonn. ddp/BZ CDU-Generalsekretär Volker Rühe hat die sofortige Sperrung aller Konten der PDS gefordert. Für die Verwaltung des gesamten Parteivermögens schlug er in einem Presse-Interview vor. einen Geschäftsführer der Berliner Treuhand einzusetzen. Unterdessen richtete der PDS-Landesvorstand Mecklenburg-Vorpommern an den Landtagspräsidenten die Bitte, eine unabhängige Kommission solle hier die Parteifinanzen der PDS untersuchen. Der SPD- Bundestagsabgeordnete Albrecht Müller bezeichnete die Aufregung der Koalitionsparteien in Bonn über die "Millionen und Milliarden der PDS" gestern als "pure Heuchelei". Die Bundesregierung habe mit Staatsvertrag und Währungsunion selbst dafür gesorgt, dass PDS und Blockparteien riesige Geldvermögen umgetauscht bekommen hätten.
(Berliner Zeitung, Mo. 05.11.1990)
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