Berlin (ND). "Für unser Land" - diesem Aufruf namhafter Persönlichkeiten der DDR hat die Regierung Modrow ihre volle Zustimmung gegeben. In einer Erklärung des Ministerrates dazu, die Regierungssprecher Wolfgang Meyer am Donnerstag auf der wöchentlichen Pressekonferenz vortrug, wird die zum Ausdruck kommende hohe staatsbürgerliche Verantwortung und das klare Bekenntnis zu einem eigenständigen sozialistischen Vaterland auf deutschem Boden gewürdigt.
Die Regierung fühle sich durch diesen Aufruf gestärkt in ihrer Auflassung, dass einer Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten, die auf eine Vereinnahmung unseres Landes hinausläuft, nicht auf der Tagesordnung steht und dem Willen der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung widerspricht. Wahrung der Eigenständigkeit der DDR setzt eine funktionsfähige Wirtschaft voraus. Mit der schrittweisen Verwirklichung der Regierungserklärung von Hans Modrow werde daran gearbeitet. Der Ministerrat appellierte an alle Werktätigen unseres Landes, die Kräfte in allen Bereichen der Volkswirtschaft zu mobilisieren, damit auch unter den gegenwärtig komplizierten Bedingungen jedes Kombinat, jeder Betrieb einen, wirksamen Beitrag zum Volkswirtschaftsplan 1989 leistet und unter Winterbedingungen die stabile Versorgung der Bevölkerung und der Volkswirtschaft gewährleistet ist.
Im Verlaufe der Pressekonferenz gab es zu einer Vielzahl von Themen Auskünfte.
PRIVILEGIEN. Die Regierung Modrow will dieses Problem an der Wurzel packen. Der Ministerpräsident habe betont, so Wolfgang Meyer, man werde alles unternehmen, um Privilegien und andere Dinge dieser Art abzuschaffen, und dafür Sorge tragen, dass es in Zukunft gleiches nicht mehr geben wird. Das sei die moralische Position des Ministerrates. In diesem Zusammenhang wurde auch festgelegt, dass die Regierungsstaffel mit 15 Flugzeugen aufgelöst wird. Künftig soll nur noch eine Sondermaschine für den Vorsitzenden des Staatsrates zur Verfugung stehen.
HALTUNG ZUR ČSSR. Obwohl die Entwicklung in der ČSSR kein Thema der Ministerratssitzung gewesen sei, beantwortete Regierungssprecher Meyer eine entsprechende Frage. Die DDR begrüße den in Gang gekommenen gesellschaftlichen Dialog im Nachbarland und vor allem, dass er in einer gewaltfreien Atmosphäre ablaufe. Dies sei nach Erfahrungen der DDR eine wichtige Basis. Zum Einmarsch in die ČSSR im August 1968 meinte der Regierungssprecher, dass bei dem gemeinsamen Beschluss der fünf Staaten das damalige Sicherheitskonzept des Warschauer Vertrages über allgemein geltendes Völkerrecht gestellt wurde. Dies sei aus heutiger Sicht nicht mehr zu akzeptieren.
GRENZGEBIET UND -ÜBERGÄNGE. Im Zusammenhang mit der zeitweiligen Übergangsregelung für Reisen und Ausreisen hat der Ministerrat, wie Wolfgang Meyer informierte, festgelegt, dass die bisherigen Bestimmungen über Sperrzonen an der Grenze aufgehoben sind. Es sind Schutzstreifen eingerichtet worden, bei denen Ortschaften, Ortsteile, Betriebe und' andere Einrichtungen ausgegrenzt wurden. Das Grenzgesetz von 1982 wird überarbeitet.
Wie der Regierungssprecher weiter informierte, wurden seit dem 9. November außer den bis dahin bestehenden 45 Grenzübergängen zur BRD und Berlin (West) 53 neue eröffnet. Insgesamt gebe es jetzt 65 Übergänge zur BRD und 33 zu Berlin (West).
KAMPF GEGEN SCHMUGGEL. Durch die neuen Regelungen und Übergänge habe der Reise- und Transitverkehr einen explosionsartigen Zuwachs betonte Günther Arndt, 1. Stellvertreter des Leiters der Zollverwaltung der DDR. So seien in nur 19 Tagen, seit dem 9. November, 16,9 Millionen Reisen von DDR-Bürgern nach Berlin (West) und in die BRD erfolgt, während es im Vorjahr 5,6 Millionen Privatreisen von Bürgern der Republik ins gesamte nichtsozialistische Ausland gab. Auch der Transitverkehr sei sprunghaft gestiegen.
Besonders komplizierte Bedingungen zur Aufrechterhaltung des Zollregimes und zur Durchsetzung der vor reichlich einer Woche vom Ministerrat erlassenen Bestimmungen zur Abwehr von negativen Folgen des Reiseverkehrs gebe es an den neuen, provisorischen Übergängen.
Verstärkte Stichkontrollen hätten ergeben, dass der wachsende Reiseverkehr auch zu vermehrter Spekulation genutzt werde. So seien seit dem 24. November, betonte Arndt, rund 2 000 Zoll- und Devisenvergehen festgestellt worden, 75 Prozent davon an der Grenze zur VR Polen. Er sei, informierte Arndt, Mitglied der DDR-Regierungsdelegation, die derzeit mit einer polnischen Delegation Gespräche in Berlin zur Lösung dieser Probleme führe.
Der Vertreter der Zollverwaltung der DDR betonte nachdrücklich, dass die eingezogenen Gegenstände weder zur dienstlichen noch privaten Nutzung in Zollorganen verbleiben, sondern umgehend an Handelsbetriebe, Kinderheime, Lebensmittelwerke und andere Einrichtungen weitergeleitet werden. Die Erlöse aus dem Verkauf des ehemaligen Schmuggelgutes würden in voller Höhe dem Staatshaushalt zugeführt.
TRANSPORTPROBLEME. Wie eng Freud und Leid beieinander liegen, verdeutlichte der Minister für Verkehrswesen, Heinrich Scholz: Die großzügigen Reiseregelungen haben bei der Eisenbahn zu einer außerordentlich komplizierten Lage geführt. Seit dem 11. November wurden 1 600 Sonderzüge eingesetzt. Das sei in einer Zeit geschehen - im Spätherbst -, in der eigentlich der Güterverkehr wegen der Bevorratung für die Wintermonate den Vorzug hat. Wegen der Überbelegung der Sonderzüge - bis zu 300 Prozent - mussten sie aus Sicherheitsgründen mit gedrosselter Geschwindigkeit fahren. Das waren erhebliche Belastungen für das Rückgrat des Transportwesens in der DDR. Die täglichen Aufgaben - der Umschlag von 100 000 Tonnen Gütern - konnte nicht gesichert werden. Ab sofort sollen deshalb in Zusammenarbeit mit den Betrieben, auch mit der NVA, alle Möglichkeiten des Straßenverkehrs - obwohl der energetisch und ökologisch ungünstiger ist - für den Gütertransport genutzt werden. Das betrifft täglich 30 000 Tonnen Güter und mehr.
GETREIDEIMPORTE. Die Regierung beschloss den Import von 500 000 Tonnen Futtergetreide, was uns 160 Millionen Valuta-Mark kostet. Dies sei erforderlich, um die Versorgung der Tiere bis zur nächsten Ernte zu sichern, denn die Trockenheit habe in diesem Jahr vor allem in den mittleren Bezirken zu hohen Ertragsausfällen geführt Ohne die Getreideimporte würden bis 150 000 Tonnen Schlachtvieh und 200 000 Tonnen Milch für die Versorgung fehlen und die Reproduktion der Tierbestände gefährdet sein.
PRESSEAMT UND MEDIEN. Einer der Beschlüsse des Ministerrates, so informierte Regierungssprecher Meyer, betreffe die Umwandlung des Presseamtes beim Vorsitzenden des Ministerrates der DDR in den "Presse- und Informationsdienst der Regierung der DDR". Der Charakter des Koalitionskabinetts werde sich auch in der personellen Zusammensetzung des Dienstes widerspiegeln. In diesem Zusammenhang wies Meyer Anschuldigungen des LDPD-Organs "Der Morgen", die DDR-Medien würden unter SED-Diktat stehen, als falsch zurück und mahnte zu journalistischer Sorgfaltspflicht. Nachdrücklich verwies er darauf, dass die drei staatlichen Medien - Rundfunk, Fernsehen und die Nachrichtenagentur ADN - jetzt nicht mehr parteigebunden seien. Darüber hinaus informierte der Regierungssprecher, dass das Kabinett als neue Generalintendanten des Rundfunks Manfred Klein und des Fernsehens Hans Bentzin ernannt habe.
KADERFRAGEN. Gebildet wurde ein Amt für Jugend und Sport, das Dr. Wilfried Poßner leitet. Der stellvertretende Regierungschef, Dr. Peter Moreth, wird die Regierungskommission zur weiteren Entwicklung Leipzigs leiten. Hinzugezogen werden Vertreter der Messestadt.
(Neues Deutschland, Fr. 01.12.1989)
BERLIN. Die Regierung der DDR unterstützt voll und ganz den Aufruf "Für unser Land", erklärte gestern Regierungssprecher Wolfgang Meyer auf der wöchentlichen Internationalen Pressekonferenz.
Bezugnehmend auf die Ministerratssitzung von gestern sagte Meyer, dass das Presseamt umbenannt wurde in Presse- und Informationsdienst der Regierung der DDR. Mit den neuen Inhalten der Arbeit dieses Dienstes sei auch ein neuer Name notwendig geworden. Meyer betonte, dass der Presse- und Informationsdienst nicht administrieren und kontrollieren wolle.
Weiterhin wurde bekanntgegeben, dass sich der Import von 500 000 Tonnen Futtergetreide im Wert von 160 Millionen Valuta-Mark notwendig gemacht hätte. Aufgrund der anhaltenden Trockenheit dieses Sommers sei es speziell in den Mittelbezirken zu wesentlichen Ertragsausfällen gekommen.
Verkehrsminister Heinrich Scholz äußerte sich vor der Presse zu Problemen des Verkehrswesens. Seit 11. November seien 1 600 Sonderzüge eingesetzt worden, die teilweise zu mehr als 300 Prozent ausgelastet waren. Aufgrund des jetzt enorm hohen Reiseverkehrs käme zu umfangreichen Stockungen im Güterverkehr. Bis zu 100 000 Tonnen täglicher Verladeleistungen seien nicht realisierbar.
Der Erste Stellvertreter des Leiters der Zollverwaltung Günther Arndt gab bekannt, dass vom 9. bis 27. November 7,3 Millionen DDR-Bürger in die BRD und 9,3 Millionen nach Westberlin gereist seien. Seit Einführung der neuen Ausfuhrbestimmungen kam es zu 2 000 Zoll- und Devisenverfahren und zu sechs Ermittlungsverfahren wegen des Versuchs ungesetzlicher Ausfuhr von Gütern bzw. Geld. Erstmals sei ein DDR-Bürger beim Schmuggeln von Rauschmitteln gefasst worden.
Von unserem Berichterstatter OLIVER MICHALSKY
(National-Zeitung, Fr. 01.12.1989)