Die 11. Tagung des FDGB-Bundesvorstandes berief am Mittwoch den außerordentlichen Kongress des FDGB für den 31. Januar und 1. Februar 1990 nach Berlin ein. Zuvor hatten am Morgen die Mitglieder des Bundesvorstandes in einer geschlossenen Sitzung ein Arbeitssekretariat zur Vorbereitung des Gewerkschaftskongresses gewählt. Das Präsidium und das Sekretariat des Bundesvorstandes waren auf Grund eines erheblichen Vertrauensverlustes geschlossen zurückgetreten.
Zur Diskussion standen ein Positionspapier "Was sind, was wollen die Gewerkschaften in unserer Zeit" sowie die Entwürfe einer neuen Satzung des FDGB und einer neuen Wahlordnung. Alle drei Dokumente werden veröffentlicht, damit jeder Gewerkschafter an der Debatte darüber teilnehmen kann. Der ehemalige FDGB-Vorsitzende Harry Tisch wurde in Abwesenheit aus dem Bundesvorstand und aus dem FDGB ausgeschlossen. Er hatte sich - wie bereits in der Presse berichtet durch Amtsmissbrauch Privilegien verschafft Gegenwärtig laufen die Ermittlungen des Staatsanwaltes und des entsprechenden Volkskammerausschusses. FDGB-Vorsitzende Annelis Kimmel, die im Referat Ursachen für den Vertrauensverlust der Gewerkschaften analysierte, erklärte, der FDGB habe unter Berufung auf die führende Rolle der SED Schritt für Schritt seine Eigenständigkeit aufgegeben. In ihrer Rede sowie im Diskussionspapier sind eine Vielfalt von Aufgaben aufgeführt zum Schutz und zur Verwirklichung der politischen, rechtlichen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Interessen der Gewerkschaftsmitglieder.
In der Diskussion informierte der stellvertretende Plankommissionsvorsitzende Heinz Klopfer über den gegenwärtigen Stand bei der Erarbeitung des Planes für 1990. Am 5. Dezember erhalten die Kombinate statt der bisherigen Planvorgaben staatliche Orientierungsgrößen, auf deren Grundlage die Betriebe im Dezember und Januar eigenständig die Pläne aufstellen können. Zum Einwand von IG-Vorsitzenden Lothar Lindner, dass die beabsichtigte Zeit zur Plandiskussion nicht ausreiche, versprach er, mit dem Chef der Plankommission über eine Verlängerung zu beraten. Im folgenden einige Fragen, die im Referat und in der Diskussion eine Rolle spielten: Wie wird künftig über die Verwendung der Solidaritätsgelder entschieden?
Die Gewerkschaftsmitglieder sollen vorher wissen, wofür ihr Solidaritätsbeitrag genutzt wird. Die Grundorganisationen können über den Anteil der internationalen und nationalen Solidarität auf Beschluss der Mitgliederversammlung oder der Vertrauensleutevollversammlung selbst entscheiden.
Wo setzt der FDGB seine Valutamittel ein?
Der FDGB besaß per 30. Juni 1989 Valuta in konvertierbaren Devisen durch Zuweisungen aus dem Staatshaushalt in Höhe von 1,66 Millionen Valuta-Mark sowie durch eigene Einnahmen aus Beiträgen von FDGB-Mitgliedern aus Berlin (West) und aus der Arbeit des dem FDGB nachgeordneten Informations- und Bildungszentrum - INTERNATIONAL e. V. - in Höhe von 1,35 Millionen Valuta-Mark. Diese Einnahmen wurden unter anderem verwendet für Beiträge an den Weltgewerkschaftsbund, für die internationale Arbeit des FDGB, für Sozialversicherungsleistungen Westberliner Eisenbahner.
Ändert sich etwas bei der Beitragszahlung?
Ab 1. Januar 1990 tritt eine Neuregelung in Kraft, die im Detail noch ausgearbeitet wird.
Was kostete das Haus der Gewerkschaften am Märkischen Ufer?
Das Gebäude wurde mit einem Kostenaufwand von 181,8 Millionen Mark, davon rund 1,5 Millionen Valutamark, die aus eigenen Einnahmen stammen, errichtet. Auf diese Kosten wirkten sich komplizierte Baugrundverhältnisse und zentrale Industriepreisveränderungen aus.
Welche weiteren Schritte wurden festgelegt?
Die Mitglieder des Bundesvorstandes des FDGB stellen an den Ministerrat den Antrag, den Grundurlaub von 18 auf 21 Tage zu erhöhen. Sie empfehlen, die überholten gesetzlichen Bestimmungen zum Kampf um den Ehrentitel „Kollektiv der sozialistischen Arbeit" aufzuheben. Weiter sei es notwendig, die in der Prämienverordnung von 1982 festgelegte administrative Begrenzung von 800 Mark je VbE im Betriebsdurchschnitt aufzuheben. Voraussetzung dafür ist, dass durch die Leistung der Belegschaft die entsprechenden Mittel im Prämienfonds vorhanden sind. Die für Juli 1990 geplanten Arbeiterfestspiele sollen nicht zum vorgesehenen Zeitpunkt stattfinden. Es sei notwendig, dafür ein neues Konzept zu entwickeln.
(Neues Deutschland, Do. 30.11.1989)
Den sofortigen Ausschluss von Harry Tisch aus dem FDGB haben die BGL sowie AGL-Vorsitzende und Vertrauensleute im Bundesvorstand des FDGB gefordert. Wie aus einer Pressemitteilung an den ADN außerdem hervorgeht, fordern sie darüber hinaus von der 11. Bundesvorstandssitzung am Mittwoch die Bildung eines Untersuchungsausschusses zur schonungslosen Aufdeckung des Amtsmissbrauchs, der persönlichen Bereicherung und des gewerkschaftsschädigenden Verhaltens des ehemaligen Vorsitzenden. Mit Empörung hatten sie, die Presseinformationen im Zusammenhang mit der Befriedigung seiner Jagdlüste in Eixen zur Kenntnis genommen.
(Neues Deutschland, Di. 28.11.1989)