Die Gründung einer "Vereinigten Linken", in der erstmals SED-Mitglieder, Parteilose oder unabhängigen Gruppen Zugehörige ohne jede Diskriminierung und gleichberechtigt miteinander zu arbeiten beginnen sollten, ist am Wochenende in Berlin gescheitert. Insgesamt ging es den Organisatoren, wie Marion Seelig als Mitglied des Sprecherrates erläuterte, um den "Versuch, die für einen Sozialismus der Freiheit und Demokratie eintretenden Menschen in unserem Land zusammenzubringen, um in solidarischer Offenheit den konzeptionellen Streit um die Zukunft unseres Landes zu führen". In 13 Arbeitsgruppen sei zu anstehenden brennenden Fragen von Politik und Wirtschaft konstruktiv gearbeitet worden. Während des Arbeitstreffens kamen auch eine Reihe ausländischer Gäste zu Wort. Das Spektrum dieser Wortmeldungen reichte von links bis linksextrem, von Alternativer Liste bis zu Trotzkisten.
(Berliner Zeitung, Mo. 27.11.1989)
Besonders einig zeigte sich das, was sich "Vereinige Linke" nennt, an diesem Wochenende noch nicht. Die lose Gruppierung, die "allen Strömungen Platz lässt, die sich zum Sozialismus bekennen", geriet sich auf ihrem "ersten Arbeitstreffen" heftig in die Haare - vor allem über die Frage, ob und wie man sich denn nun organisieren solle. Von SEDlern über Trotzkisten und Antifas bis zu autonomen Projektgruppen war unter den über 500 TeilnehmerInnen im Ostberliner Tagungs-"Haus der jungen Talente" alles vertreten.
Ans Rednerpult wagten sich allerdings fast ausschließlich Männer, und die bestimmten auch den Stil der Auseinandersetzung. Während eine Initiativgruppe sich vor dem Podium aufgebaut hatte und Antrag an Antrag reihte, um die "Vereinigte Linke" möglichst schnell handlungsfähig zu machen, powerten die Dezentralen genauso hart dagegen. Einrichtung eines zentralen Informationsbüros? Lautstarker Protest. "Aber das ist doch nur ein Informationsbüro!" "Information ist Macht!" brüllte man mit und ohne Mikro durch den Saal. Der Kompromiss - drei Büros, für Norden, Süden und Berlin - fand zwar eine Zweidrittelmehrheit, doch die Minderheit stellt fest, schon dies sei "die Spaltung".
Der nächst Vorschlag, ein "Netz von etwa 15 Kontaktadressen, die die Information zirkulieren lassen", fand nur wenige Gegenstimmen, dafür zogen jetzt die harten Organisierer für eine Weile aus und berieten unter sich, wie sie die Sache beschleunigen können. Und auf der anderen Seite, bei den Dezentralen, überlegten sich nicht wenige, ob "wir überhaupt noch mal wiederkommen". Alle Tendenzen wissen, dass sie durch die rapide Krenz-Wende und die Diskussion über den Wahltermin unter Zeitdruck geraten sind. Und so kam immerhin eine Projektgruppe zur Vorbereitung des "runden Tisches" zustande.
Doch alles andere befindet sich noch in embryonalem Zustand. Vorbereitungspapiere zirkulierten zwar, zum Beispiel über "die Prämissen einer sozialistischen Wirtschaftsreform", wo die "Selbstverwaltung der assoziierten Produzenten" gleich neben der "materiellen Durchsetzung des Leistungsprinzips" steht und das "effiziente wirtschaftliche Handeln" neben sozialer Sicherheit und ökologischer Verträglichkeit. Und dass die Demokratie nicht an der Wahlurne, sondern in den Betrieben beginnt, galt als Binsenweisheit. Aber über die Idee einer Doppelstruktur von Räten kam man auch hier nicht hinaus. Man will sich ähnlich wie das Neue Forum gleichzeitig nach Betrieben wie "territorial" organisieren, Ergebnis soll ein "Volkskongress" sein.
In den insgesamt zwölf Arbeitsgruppen zu Politik und Ökonomie - die Frauen kamen nicht vor, der "ökologische Umbau" fiel mangels Beteiligung aus - wurde zwar intensiv gestritten, aber auf dieser Wochenendtagung, auf der ja nicht festgefügte Gruppen zusammenkamen, sondern sich Individuen oft zum ersten Mal begegneten, konnten natürlich Konturen für eine "Vereinigte Linke" noch nicht entstehen. Die Positionen schwankten zwischen unbedingtem Streikrecht und solchem nur als letztes Mittel, und die einen wollen die Regierung Modrow punktuell unterstützen, für andere dagegen gab es dazu gar keinen Grund. Der Konflikt um künftige Bündnisse oder Regierungsbeteiligung ist schon abzusehen.
Gar nicht verstehen wollten solcherlei Widersprüche und Spagate diejenigen, die autonom oder trotzkistisch aus dem Westen gekommen waren und in manchen Arbeitsgruppen eine starke Minderheit stellten: Vor allem das halbe Dutzend trotzkistischer Grüppchen bemühte sich am Sonntagnachmittag auf einem "Ausländerplenum", den DDRlern in jeweils zwei Minuten den Weg zu weisen: "...den Weg zur Arbeiterklasse finden" (Trotzkistische Liga Deutschlands), "Modrow ist die Hauptgefahr" (4.Internationale), "die Klassengesellschaft in der DDR durch die revolutionäre Aktion der Arbeiter stürzen" (SAG). Man ließ sie reden. Schließlich will die "Vereinigte Linke" ja nicht ausländerfeindlich sein.
(die tageszeitung, 28.11.1989)
Ost-Berlin, "Haus der jungen Talente". "Erstes Arbeitstreffen" der "Vereinigten Linken" verkündete am Wochenende ein Transparent über dem Eingang an der Ost-Berliner Klosterstraße, einen Steinwurf vom DDR-Staatsratsgebäude entfernt.
Gegen die Preisgabe der DDR gegenüber dem beutehungrigen westdeutschen Kapital will die Initiative einen Gegenentwurf für einen demokratischen und freiheitlichen Sozialismus setzen: Der Sozialismus hat für die über 500 Teilnehmer allein deshalb noch nicht abgewirtschaftet, weil es ihn noch nie gegeben habe. Vielmehr habe die Parteidiktatur und die Kommandoökonomie der SED-Führung jegliche Arbeiterselbstbestimmung und -selbstverwaltung zu verlogenen Phrasen verstümmelt. Dies gelte es nun zu ändern. Ein Parlamentarismus, in dem alle paar Jahre der Wähler ein Kreuzchen machen darf, ist für sie keine Zielvorstellung.
Die Demokratie fängt für die "Vereinigte Linke" in den Betrieben an. Die Werktätigen sollen die Ziele der sozialistischen Gesellschaft formulieren; die Parteien dürfen dabei nur Hilfestellung bei der Umsetzung leisten. Nicht weniger Plan, sondern wirkliche Planung, ergänzt um Marktmechanismen und Leistungsanreize, auch das gehört zu den Vorstellungen jener, die zwei Tage lang in zwölf Arbeitsgruppen stritten.
Nicht gerechnet aber hatten die Veranstalter mit einem westdeutschen Revolutionstourismus, einer Wiedervereinigung der linken Spielart. Aus Hannover, aus Hamburg, Frankfurt und vor allem aus Berlin (West) waren die Gäste angereist. Besonders stark vertreten waren die Kreuzberger Autonomen. Bereits im Foyer erklärten per Aushang die "Marxisten für die Rätedemokratie", die IV. Internationale, die Spartakisten oder die "Gruppe Arbeitermacht", was da eigentlich in der DDR abläuft.
Manche der westlichen Gäste waren zum Zuhören gekommen, andere aber machten sich in den Arbeitsgruppen, in denen sehr ernsthaft und gründlich gesichtet wurde, was noch brauchbar sei vom DDR-Sozialismus, daran, den armen Zonis zu verklickern, wo es nun langgehen müsse. Politisches Schamgefühl ist wohl nur dann von Bedeutung, wenn man das Fehlen desselben beim Bundeskanzler einklagen kann.
Gefragt, ob er sein politisches Oberlehrerverhalten nicht peinlich fände, antwortete einer: "Diese Diskussion müssen wir gemeinsam führen." Am Eingang aber sah man dies wohl anders. "Könnt Ihr nicht einmal solidarisch sein und zurücktreten, damit wir unter uns diskutieren können?" bat eine Frau vom Organisationsbüro genervt bis verzweifelt einen Neuankömmling aus dem Westen.
(die tageszeitung, 27.11.1989)