Hunderttausende Leipziger und Bürger aus anderen Bezirken vereinten sich gestern Abend zur bisher machtvollsten Demonstration auf dem Karl-Marx-Platz der Messestadt. In Sprechchören und auf Transparenten forderten sie weitere spürbare Veränderungen auf dem Wege einer demokratischen Erneuerung des Landes. Hauptaussagen ihrer Losungen waren unter anderem: "Reisegesetz ohne Einschränkungen" und "Schluss mit dem Führungsanspruch der SED - Verfassungsänderung Artikel 1!".
Zwischen Oper und Gewandhaus, wo sich trotz anhaltenden Regens die Menschen dicht an dicht drängten, ergriffen Arbeiter, Abgeordnete sowie Vertreter von Parteien, staatlichen Einrichtungen sowie dem "Neuen Forum" das Wort. Nicht erneut über Trennendes reden, sondern gemeinsam nach Wegen suchen, wie aus der Misere herauszukommen sei, verlangte der Leipziger Stadtverordnete Bernhard Knupp (SED). Das sei nur mit neuen Leuten in Partei- und Staatsführung zu erreichen. In diesem Zusammenhang forderte der Abgeordnete den sofortigen Rücktritt von Politbüro und Regierung.
Immer wieder vom Ruf "Wir sind das Volk!" begleitet, rief ein Arbeiter auf, mit dem Missbrauch der Macht Schluss zu machen. Nur durch eine direkt vom Volk gewählte Regierung könne Vertrauen wiedergewonnen werden. Ein weiterer Sprecher verlangte die Zurücknahme des neuen Reisegesetzentwurfes: "Was nutzen Reiseerleichterungen mit einem Bettelsack auf dem Rücken?!" Gegen Missfallensbekundungen ankämpfend, versuchte sich der neugewählte 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung, Dr. Roland Wötzel, Gehör zu verschaffen. Das kleine, zarte Pflänzchen, das in Leipzig erste Blüten getrieben habe, müsse weiter gedeihen, sagte er. Unter dem Beifall der Versammelten verlangte als Sprecher des "Neuen Forums" Pfarrer Martin Kind die Legalisierung dieser bisher nicht zugelassenen Gruppierung.
Halle (ND). Nachdem einige tausend Einwohner kurz nach 17.00 Uhr durch die Innenstadt demonstrierten, stellten sich den auf dem Marktplatz versammelten 60 000 Bürgern Mitglieder des Sekretariats der SED-Bezirksleitung, Bezirksvorsitzende weiterer Parteien sowie der Rat der Stadt zum Disput der emotionsgeladen geführt wurde. Gegenüber Hans-Joachim Böhme, Mitglied des Politbüros des ZK der SED und 1. Bezirkssekretär, brachten die Demonstranten heftige Kritik vor. In seiner Antwort bekannte er sich zur Politik der Wende und sagte, für ihn seien diese Tage eine Lektion fürs Leben.
Der 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Halle, Hans-Joachim Böhme, wurde ausgebuht und angespuckt. Er musste vor körperlichen Attacken geschützt werden. Sein Rücktritt wird gefordert.
Das MfS in Halle befürchtet, dass die Demonstranten in das Gebäude der Bezirksverwaltung eindringen könnten. Was aber von diesen gar nicht beabsichtigt war. Vor dem Gebäude der SED-Bezirksleitung werden brennende Kerzen abgestellt.
Karl-Marx-Stadt (ADN). Mehr als 50 000 Menschen versammelten sich am Montagabend in einem Demonstrationszug im Zentrum von Karl-Marx-Stadt. Sie forderten ehrliche und radikale Losungen für die herangereiften Probleme, kritisierten zu langes Reden ohne Taten.
Nach heftigen Unmutsäußerungen ergriff der 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung, Siegfried Lorenz, Mitglied des Politbüros das Wort "Der Aufbruch in der DDR ist den Kundgebungen zu danken. Ich stehe zu einer radikalen Erneuerung des Sozialismus, in dem wahre Demokratie gebraucht wird wie, die Luft zum Atmen", erklärte er.
Die Rede des 1. Sekretärs der SED-Bezirksleitung Karl-Marx-Stadt, Siegfried Lorenz, geht in Rufen und Pfiffen unter.
Cottbus (ND). Über zehntausend Cottbuser versammelten sich am Montagabend vor der Stadthalle, auf der unterschiedlichste Meinungen geäußert, Anfragen vorgetragen und Antworten von Funktionären der Parteien und des Staates, von Bürgern verschiedener Schichten und Organisationen gegeben wurden. Es ist harte Arbeit erforderlich, um die eingeleitete Politik der Erneuerung auf allen Gebieten unseres Lebens zu verwirklichen, sagte Werner Walde, Kandidat des Politbüros und 1. Sekretär der Bezirksleitung der SED. Dafür wolle auch die SED ihr Potential, ihre Vorschläge einbringen.
Schwerin (ADN). Im Anschluss an ein Friedensgebet bildete sich am Montag in Schwerin ein Demonstrationszug von rund 25 000 Bürgern. Kurze Ansprachen von Vertretern des Neuen Forums sowie der LDPD leiteten den friedlichen Marsch durch die Innenstadt ein. Die Demonstranten sprachen sich, unter anderem für die Zulassung neuer Bewegungen, freie Wahlen, Gleichberechtigung der Parteien und umfassende Reformen aus.
Erfurt (ADN). An einer oft erregt geführten Diskussion in der überfüllten Erfurter Predigerkirche, zu der Organisationen des Neuen Forums eingeladen hatten, beteiligten sich am Montag fast alle Mitglieder des Rates des Bezirkes. "Hier geht es nicht in eine Ungewisse Zukunft, hier kann es nur noch besser werden", sagte unter lang anhaltendem Beifall einer der Diskussionsredner an die Adresse all jener gewandt, die sich mit dem Gedanken tragen, die DDR zu verlassen. Die Kundgebungen hielten in einigen Städten bei Redaktionsschluss noch an, so auch in Magdeburg und Dresden.
Bei der Kundgebung auf dem Alten Markt in Magdeburg bekommt der Oberbürgermeister den Unmut der Versammelten zu spüren.
Nach vorliegenden Hinweisen nahmen an ca. 100 bedeutenden Dialog - und Protestveranstaltungen mehr als 750 000 Personen teil. Der Einfluss des "Neuen Forum" und anderer Sammlungsbewegungen wächst. Es verstärken sich Anzeichen der Ablehnung des Dialogs. Die erhobenen Forderungen tragen zunehmend radikalen und ultimativen Charakter.
Massencharakter nahmen die Demonstrationen und Kundgebungen erneut vor allem in Leipzig (über 200 000 Teilnehmer), Karl-Marx-Stadt (100 000 Teilnehmer), Dresden und Halle (jeweils ca. 80 000 Teilnehmer), Magdeburg und Cottbus (jeweils ca. 32 000 Teilnehmer) an. Zu Ausschreitungen kam es nicht. In einer sich weiter zuspitzenden Atmosphäre in Halle forderten die Teilnehmer den Rücktritt des 1. Sekretärs der Bezirksleitung der SED und der SED Stadtleitung sowie des Vorsitzenden des Rates des Bezirkes.
Die Teilnehmer eines Dialoggespräches im Anschluss an eine Demonstration in Karl-Marx-Stadt verhinderten durch Sprechchöre und Pfiffe weitgehend die Rede des 1. Sekretärs der Bezirksleitung der SED.
Während einer Demonstration vor einer Montagsandacht der Katholischen Kirche in Henningsdorf wurde ein Brief an den Minister für Staatssicherheit mit der Forderung nach Beseitigung des MfS verlesen.
Nach einer Demonstration in Aue wird vor dem Kreiskulturhaus "Ernst Thälmann" eine Kundgebung abgehalten. Der 1. Sekretär der SED-Kreisleitung sieht sich mit Protesten und Rücktrittsforderungen konfrontiert.
In der Nikolaikirche in Pritzwalk findet die erste Informationsveranstaltung des Neuen Forum statt. Im Anschluss kommt es zu einer Demonstration. Auf dem Flugblatt zum Aufruf der Demonstration werden grundlegende Veränderung im Staat gefordert. Forderungen sind Meinungs-, Rede-, Reise- und Versammlungsfreiheit sowie die Zulassung der neu entstandenen Organisationen.
Die Demonstranten in Bernburg (Saale) ziehen vor den Sitz der SED-Kreisleitung und der MfS-Kreisdienststelle. Vor der SED-Kreisleitung werden brennende Kerzen aufgestellt. Es wird der Rücktritt des 1. Sekretärs gefordert. Zuvor fand ein Gottesdienst in der Martinskirche statt.
Nach einem "Friedensgebet" im Merseburger Dom formiert sich ein Demonstrationszug durch die Innenstadt vorbei an der MfS-Kreisdienstelle und der SED-Kreisleitung zur Stadtkirche. Es wird "Stasi raus" und "Stasi in die Volkswirtschaft" gerufen. Brennende Kerzen werden abgestellt.
Die Ablösung des 1. Sekretärs der SED-Kreisleitung wird während einer Veranstaltung in der Marienkirche in Atern gefordert. "Anwesende SED-Mitglieder verhielten sich passiv", ist in einem Bericht des MfS zu lesen.
"Eine anschließende Demonstration mit ca. 450 Teilnehmern verlief ruhig. An den Objekten der Kreisleitung, des Rates des Kreises, der Kreisdienststelle wurden Plakate, Transparente abgestellt/angehangen."
Erste Großkundgebung in Stendal auf dem Marktplatz.
Nach dem Gebet zur gesellschaftlichen Erneuerung im Magdeburger Dom, findet eine Kundgebung auf dem Alten Markt statt.
Zu Demonstration kommt es auch in Apolda, Bad Blankenburg, Bautzen, Friedland (Bezirk Neubrandenburg), Hoyerswerda, Königsbrück, Malchow, Nordhausen, Oelsnitz, Oschatz, Pößneck, Rabenau, Sonneberg, Templin, Waren, Wernigerode, Wurzen, Zwickau und anderen Städten.
Während eines Jugendforums im Kreiskulturhaus in Weißenfels wird die Trennung von FDJ und Schule sowie den Rücktritt des 1. Sekretärs der SED-Kreisleitung gefordert.
In der evangelischen Stadtkirche in Mittweida findet eine Podiumsdiskussion statt.
Eine Dialogveranstaltung findet im großen Saal des Kulturhauses "7. Oktober" in Suhl statt.
In mehren Städten gibt es am Abend Diskussionsveranstaltungen.