Berlin (Eig. Ber.) Der Bundesvorstand des FDGB führte seine 10. Tagung am 30. 10. und am 2. 11. 1989 durch. In der Beratung am 2. November nahm der Bundesvorstand den Rücktritt des Kollegen Harry Tisch als Vorsitzender des Bundesvorstandes mit zwei Gegenstimmen und einer Stimmenthaltung an. Kollegin Annelis Kimmel wurde zur Vorsitzenden des Bundesvorstandes des FDGB gewählt. Bei dieser Entscheidung gab es 174 Ja-Stimmen und zwei Enthaltungen.
Der Bundesvorstand beschloss eine erste Stellungnahme zur politischen Situation und den Aufgaben der Gewerkschaften. Dieses Dokument, das Referat der Kollegin Kimmel, die Diskussion auf der Tagung sowie das Diskussionspapier der Hochschule der Gewerkschaften wurden als Grundlage für eine breite Aussprache in den Gewerkschaftskollektiven bestätigt.
Der Bundesvorstand bildete acht Arbeitsgruppen zur Erarbeitung von gewerkschaftlichen Standpunkten zu folgenden Themen:
- Wirksamere Gestaltung des sozialistischen Leistungsprinzips
- Gesundheits- und Arbeitsschutz sowie Umweltschutz
- Innergewerkschaftliche Demokratie
- Erarbeitung des BKV
- Volkswirtschaftliche Struktur und gesellschaftliches Arbeitsvermögen
- Preis- und Subventionspolitik
- Ausgestaltung des Arbeitsgesetzbuches
- Wissenschaft und Technik
In der Diskussion sprachen 27 Kolleginnen und Kollegen. Der Bundesvorstand bestätigte den Rücktritt des Kollegen Gerhard Nennstiel von seinen Funktionen als Mitglied des Präsidiums und als Mitglied des Bundesvorstandes des FDGB.
(Tribüne, Fr. 03.11.1989)
Berlin (ND). Seit Donnerstag steht an der Spitze des FDGB eine Frau. Die Mitglieder des Bundesvorstandes wählten auf ihrer gestrigen Tagung Annelis Kimmel zu ihrer Vorsitzenden. Ursprünglich war die Fortsetzung der am Montag unterbrochenen 10. Tagung erst für den 17. November geplant. Aber viele Gewerkschafter hatten in Fernschreiben, u. a. auch an die Redaktion des "Neuen Deutschland", eine unverzügliche Fortsetzung der Beratungen gefordert.
Zu Beginn der Tagung war Harry Tisch, seit 15 Jahren Vorsitzender des Bundesvorstandes, zurückgetreten. Er erklärte, die Wende in der Gewerkschaftsarbeit sei nicht möglich, wenn der Vorsitzende der Klassenorganisation einen Vertrauensverlust erlitten hat.
Bevor Annelis Kimmel, die seit 10 Jahren die Berliner Gewerkschaftsorganisation leitete, sich der offenen Abstimmung stellte, unterbreitete sie erste Vorstellungen über Veränderungen im FDGB. Sie habe sich für den Ausgang der Beratung am Montag wie die anderen Mitglieder des Bundesvorstandes geschämt. Ursachen für die Unentschlossenheit seien die ungenügende Einschätzung der entstandenen Situation und ein von Emotionen überlagertes Verhältnis zu Harry Tisch gewesen. Die ganze Achtung und Anerkennung, die ganze Sorge und Arbeit müsse viel stärker als zuvor den und allen ehrenamtlichen Funktionären in den Grundorganisationen gelten. "Wir sind angehalten, unsere bisherige gewerkschaftspolitische Arbeit konstruktiv in Frage zu stellen", fuhr Annelis Kimmel fort. Einigkeit bestehe darin, dass die Einheit der Gewerkschaften gewahrt bleiben muss. "Als einheitliche, unabhängige und freie Gewerkschaften wollen wir kämpferisch die Interessen der Arbeiterklasse und aller anderen Werktätigen in jeder Situation verfechten.
Annelis Kimmel regte an, den 12. FDGB-Kongress bereits für 1990 einzuberufen. Davor sollten eine neue Satzung, eine neue Wahlordnung und der Beschlussentwurf öffentlich in den Gewerkschaftsgruppen diskutiert werden. Beifall erhielt sie für ihren Vorschlag, das Gewerkschaftshaus am Märkischen Ufer umgehend allen Mitgliedern zu öffnen. Es soll künftig eine Stätte reichen gewerkschaftlichen Lebens der Kollegen sein. In der Diskussion sprachen sich mehrere Redner für größere Kompetenzen der Industriegewerkschaften und Gewerkschaften aus. Weitere Themen waren der Abbau des Apparates des FDGB auf allen Ebenen, der Einfluss der Gewerkschaft auf die staatlichen Leitungen und die Schaffung von Bedingungen für eine kontinuierliche Produktion. Ebenso wurde die Beseitigung jeglicher Privilegien verlangt. Zum Abschluss der Beratungen schlug Annelis Kimmel vor, den Arbeitsplan für Präsidium und Sekretariat zu erneuern. Die nächste Bundesvorstandstagung ist für den 29. November geplant. Der FDGB-Bundesvorstand stimmte dem Antrag von Gerhard Nennstiel zu, ihn von seinen Funktionen als Mitglied des Präsidiums und als Mitglied des Bundesvorstandes zu entbinden. Eine Meldung in der "Berliner Zeitung" über den Bau eines Eigenheimes für ihn durch eine Brigade in der Berlin-Initiative hatte Empörung ausgelöst und das Sekretariat des Zentralvorstandes der IG Metall bewogen, den Antrag Gerhard Nennstiels zu billigen, ihn von seiner Funktion als Vorsitzender des Zentralvorstandes zu entbinden. Im Anschluss an die 10. Tagung traten acht am Montag gebildete Arbeitsgruppen zusammen.
(Neues Deutschland, Fr. 03.11.1989)
Link zu Harry Tischs Rücktrittserklärung