Auf Einladung des DGB ist der Vorsitzende des FDGB-Bundesvorstandes, Harry Tisch, Mitglied des Politbüros des ZK der SED, am Dienstagnachmittag zu viertägigen Gesprächen in der BRD eingetroffen. Auf dem Flughafen Frankfurt (Main) wurden Harry Tisch und seine Begleitung vom DGB-Vorsitzenden Ernst Breit begrüßt. Anwesend war der Leiter der Ständigen Vertretung der DDR in der BRD, Botschafter Horst Neubauer. Unmittelbar nach der Ankunft führten beide Gewerkschaftsvorsitzende einen ersten Meinungsaustausch über Fragen der bilateralen Beziehungen und der internationalen Lage. Außerdem informierten Harry Tisch und Ernst Breit einander über aktuelle Probleme der gewerkschaftlichen Interessenvertretung von FDGB und DGB.
Übereinstimmend bewerteten beide Seiten zunächst ihre erneute Begegnung als Ausdruck einer sich positiv entwickelnden Zusammenarbeit. Dabei habe sich die im Mai 1987 geschlossene Vereinbarung erfolgreich Die Gesprächspartner stellten fest, dass die Beziehungen auch künftig in dieser Weise mit Realismus und Dialogbereitschaft gestaltet und ausgebaut werden sollten.
Die Gewerkschaftsbünde sähen darin auch einen ihnen gemäßen und möglichen Beitrag zum Verhältnis von DDR und BRD. in diesem Zusammenhang wurde die Auffassung vertreten, dass zu jeder Zeit die Prinzipien der Gleichberechtigung, Nichteinmischung und guten Nachbarschaft Vorrang haben sollten. Im Verlauf des offenen Gesprächs wurde hervorgehoben, dass FDGB und DGB eine besondere Verantwortung darin sehen, alles zu unternehmen, dass von deutschem Boden nie wieder Krieg, sondern nur noch Frieden ausgeht. Unmissverständlich haben sie dies auch bei Veranstaltungen zum 50. Jahrestag des Ausbruchs des zweiten Weltkrieges in Berlin und Dortmund betont. Beide Seiten halten es für notwendig, den Abrüstungsprozess ohne Pause fortzusetzen.
Harry Tisch teilte die von Ernst Breit geäußerte Besorgnis über stärker werdende rechtsextremistische, revanchistische und neonazistische Kräfte in der BRD. Ebenso wurden Erklärungen von Regierungspolitikern der BRD über das "Fortbestehen eines deutschen Reiches in den Grenzen von 1937" verurteilt. Der DGB-Vorsitzende informierte sodann über aktuelle gewerkschaftliche Aufgaben in der BRD. Dabei, so stellte er fest, bleibe der Kampf gegen die anhaltend hohe Massenarbeitslosigkeit und ihre sozialen Folgeerscheinungen nach wie vor wichtigstes Anliegen. In diesem Zusammenhang erläuterte Ernst Breit Schwerpunkte des neuen DGB-Aktionsprogramms. Veränderte Anforderungen für die Gewerkschaften in der BRD entständen mit der Herausbildung des EG-Binnenmarktes. Ausführlich sprach der DGB-Vorsitzende über die Vorbereitung des 14. Ordentlichen Bundeskongresses seiner Organisation, der im kommenden Jahr stattfinden wird.
Harry Tisch berichtete seinem Gastgeber, wie die Gewerkschaften in der DDR engagiert für die Stärkung des Sozialismus zum Wohle der Menschen eintreten. Dieser Weg habe sich in den vergangenen 40 Jahren bewährt und ein hohes Maß an sozialer Sicherheit für alle gebracht.
Während des Gesprächs verwies der Vorsitzende des FDGB- Bundesvorstandes darauf, dass die gegenwärtige, von Politikern und Medien der BRD geführte Kampagne gegen die DDR in den Gewerkschaften auf energischen Protest stoße. Viele Werktätige sehen darin auch eine Gefährdung des erreichten Standes der Beziehungen zum Vorteil der Menschen beider Länder.
Auf dem Besuchsprogramm der Delegation des FDGB-Bundesvorstandes stehen weitere Gespräche in Heidelberg und in der baden-württembergischen Landeshauptstadt sowie eine Begegnung mit Vertrauensleuten in einem Stuttgarter Betrieb.
Unmittelbar nach der Begrüßung hatten Harry Tisch und Ernst Breit noch auf dem Rollfeld auf Fragen von Journalisten geantwortet. Er erwarte vom erneuten Meinungsaustausch mit dem DGB eine Verständigung über alle Fragen, die beide Gewerkschaften sowohl bilateral als auch international interessierten, betonte der Gast aus der DDR. Das seien Fragen des Friedens und der Abrüstung, der gewerkschaftlichen Mitbestimmung bis hin zu Themen wie moderne Technologien und die Rolle der Gewerkschaften in diesem Prozess. Alle Fragen, die uns bewegen, würden miteinander diskutiert. Ernst Breit pflichtete dem Vorsitzenden des FDGB-Bundesvorstandes bei und unterstrich es gebe schon lange keine Fragen zwischen beiden Gewerkschaften mehr, über die nicht miteinander geredet würde.
Auf provokatorische Fragen von BRD-Journalisten, im Zusammenhang mit der von der BRD und ihre Medien inszenierten Nacht- und Nebelaktion verwahrte sich Harry Tisch gegen diese, wie er sagte, "Schlammschlacht". Die DDR beschreite ihren Weg in Ruhe und Zuversicht weiter, trotz aller Aggressivitäten, trotz aller Aufputschung der Gefühle, die es gegenwärtig gebe. Der sozialistische deutsche Staat lasse sich auf seinem Weg nicht aufhalten.
(Neues Deutschland, Mi. 13.09.1989)