Berlin (ADN). Nach langfristiger Planung und sorgfältiger Organisation wurde am Montag in einer Nacht-und-Nebel-Aktion begonnen, mit größtem propagandistischem Aufwand eine größere Anzahl Bürger der DDR illegal und unter Verletzung völkerrechtlicher Verträge und Vereinbarungen aus der Ungarischen Volksrepublik in die BRD zu verbringen. Dies ist ein präzedenzloser Vorgang im internationalen Leben, in den Beziehungen souveräner Staaten und stellt eine offene Einmischung in die inneren Angelegenheiten der DDR und anderer Staaten dar. Die Verantwortlichen in der BRD haben diesen Schritt trotz aller Hinweise und Warnungen, entgegen allen konstruktiven Vorschlägen und Initiativen der DDR zur einvernehmlichen Lösung dieses Problems unternommen und finanziert. In einer zügellosen Hetz- und Verleumdungskampagne gegen die DDR wurden unter Missbrauch von Reise- und Kontaktmöglichkeiten, über Massenmedien und durch direkte Aktionen unverhüllte Abwerbung und Irreführung von Bürgern unseres Staates betrieben.
Es ist bedauerlich, dass sich Vertreter der Ungarischen Volksrepublik zur Verletzung von Abkommen und Vereinbarungen verleiten ließen. Völkerrecht und internationale Vereinbarungen können in keiner Weise als Rechtfertigung für diese Entscheidung angerufen werden, sie verbieten, im Gegenteil, die Einmischung in innere Angelegenheiten, die Missachtung nationaler Gesetze und Ordnungen anderer Staaten sowie die willkürliche Aufkündigung oder einseitige Außerkraftsetzung bindender Verträge und Vereinbarungen.
Die Vertreter aus Bonn nutzten die ungarische Haltung für ihre antisozialistischen und revanchistischen Ziele weidlich aus. Der sozialistische deutsche Staat hat Geduld, Beweglichkeit, aber selbstverständlich auch prinzipielle Festigkeit bewiesen. Er hat den beteiligten Staaten konstruktive Angebote unterbreitet. Er bleibt bereit, den betreffenden Bürgern der DDR, die - aus welchen Gründen auch immer - unsere Republik verlassen wollten, den Weg zurück zu Gesetz und Ordnung zu ermöglichen, Großmut walten zu lassen. Dies entspricht dem humanistischen Charakter unserer Gesellschaftsordnung. Versuche der politischen und ökonomischen Erpressung, Drohungen und Verlockungen müssen dabei selbstverständlich entschieden zurückgewiesen werden.
Dieser Coup aus der BRD ist weder eine zufällige noch vereinzelte Aktion. Er ist Bestandteil des Kreuzzuges des Imperialismus gegen den Sozialismus insgesamt, wobei für die einzelnen sozialistischen Bruderstaaten von Berlin bis Peking jeweils spezielle Rezepte verordnet werden.
In Europa hat sich manches zum Positiven gewandelt, in den Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten sowie der DDR und Berlin (West). Die Idee des gemeinsamen Hauses Europa findet immer breitere Unterstützung.
Nun muss man jedoch Bonn fragen, ob seine Politik der sogenannten "Obhutspflicht" nicht zu einer modernen Version jener berüchtigten "Heim ins Reich"-Bewegung wird, die Menschen lediglich als Objekte des Revanchismus und Chauvinismus missbraucht. Die verheerenden Folgen und unzähligen menschlichen Tragödien einer derartigen Politik und Praxis sollten gerade zum 50. Jahrestag der Entfesselung des zweiten Weltkrieges nicht vergessen werden.
Auch der Zeitpunkt dieser Aktion ist nicht verwunderlich. Sie wurde am Vorabend des 40. Jahrestages der DDR inszeniert. Hier wirken die Gesetze des Klassenkampfes unbarmherzig. Nicht jeder hält diesen Anforderungen und Belastungen stand und verlässt sein Vaterland unter der psychologischen Kriegsführung des Gegners. Der Sieg des Sozialismus auf deutschem Boden, die 40jährige erfolgreiche Entwicklung des sozialistischen deutschen Staates das ist doch zugleich die historische Niederlage des deutschen Imperialismus. Wie schon so oft in der Geschichte, versuchen die Gegner des Sozialismus, historische Zäsuren durch Provokationen und Propagandakampagnen zu übertönen. Nachdem alle Versuche gescheitert sind, das Rad der Geschichte aufzuhalten, glauben imperialistische Kreise jetzt offensichtlich, die Chance des Jahrhunderts sei gekommen und eine Art "soziale Revanche" für die Niederlagen seit der Oktoberrevolution 1917 möglich. So soll auch die DDR als Eckpfeiler des Friedens und des Sozialismus an der Trennlinie der beiden Weltsysteme durch Verlockungen, Versprechungen sowie Drohungen erpresst werden, auf Grundprinzipien und Grundwerte des Sozialismus zu verzichten.
Die Erklärungen der Offiziellen aus Bonn vom Wochenende haben nochmals bestätigt: Unter dem Vorwand der Humanität wird organisierter Menschenhandel betrieben. Auch die Worte August Bebels sind wiederum bekräftigt worden: "Wenn der Feind Dich lobt ..."
Die Werktätigen der DDR, die Bürger unseres Staates geben mit ihren Leistungen und Aktivitäten zum 40. Jahrestag diesen imperialistischen Machenschaften die richtige Antwort. Die machtvolle Kundgebung auf dem Berliner Bebelplatz zum Gedenktag für die Opfer des faschistischen Terrors, zum Kampftag gegen Faschismus und Krieg, die eindrucksvollen Veranstaltungen in den Städten und Gemeinden unserer Republik haben das Bekenntnis der Bürger zu ihrem sozialistischen Staat, zur Politik des Friedens, der Abrüstung und Zusammenarbeit mit allen Ländern der Welt unüberhörbar zum Ausdruck gebracht. Hier, auf sozialistischem deutschen Boden, ist die Heimstatt des Friedens, der Humanität, der sozialen Sicherheit und Geborgenheit. Hier wird ein jeder gebraucht und hat alle Möglichkeiten, sich zu verwirklichen. Der Sozialismus auf deutschem Boden ist unabdingbarer Bestandteil von Frieden, Sicherheit und Stabilität in Europa. Unsere sozialistische Gesellschaftsordnung ist ebenso unwiderruflich wie unser Bündnis mit der Sowjetunion und die freundschaftlichen Beziehungen zu unseren sozialistischen Bruderstaaten.
(Neues Deutschland, Di. 12.09.1989)
Über die Kontakte zu seinem BRD-Botschaftskollegen in Ungarn schreibt der DDR-Botschafter, Gerd Vehres: "Bis zum Sommer 1989 pflegten wir ganz normale, höfliche Kontakte. Die brachen schlagartig ab, als die ausreisewilligen DDR-Bürger ins Land kamen. Ich hatte Dr. Arnot bestellen lassen, dass wir uns 'wieder mal sehen' sollten. Aber nichts geschah. Die Funkstille dauerte bis zum 11. September 1989, als Ungarn die DDR-Bürger über die Grenze nach Österreich ließ. Danach entschuldigte sich Dr. Arnot bei mir, dass er auf meine Anfrage nicht reagiert habe. Bonn hätte den Kontakt zu diesem Zeitpunkt nicht genehmigt. Nach dem 11. September wurden die Kontakte intensiver, entsprechend dem deutsch-deutschen Hintergrund."
(Gerd Vehres in: Der Letzte macht das Licht aus. Wie DDR-Diplomaten das Jahr 1990 im Ausland erlebten. edition ost im Verlag das neue Leben, 2. korr. Auflage 2001, herausgegeben von Birgit Malchow, S. 122f)