Einige zehntausend Menschen kamen gestern zu Demonstrationen in mehreren Städten, um eine sofortige Überprüfung der Volkskammerabgeordneten auf ihre eventuelle Stasi-Vergangenheit zu fordern. Im Berliner Demonstrationszug von der Weltzeituhr zur Volkskammer waren Transparente wie "Gegen erpressbare Abgeordnete" bis zum bitteren Spruch "Sie lieben uns immer noch" zu finden.
In der emotionsgeladenen Atmosphäre der Kundgebung am Palast der Republik, zu der das Neue Forum aufgerufen hatte, wurden immer wieder Rufe laut wie "Stasi raus", oder es erklang das abgewandelte Kinderlied "In der Kammer, in der Kammer sitzt 'ne kleine Wanze...". Dabei die Sorge um ein Parlament ausdrückend, das mit einer derartigen Hypothek belastet nicht vertrauenswürdig und arbeitsfähig wäre.
Es sei verhängnisvoll, so Werner Schulz vom Neuen Forum, wenn die Staatsanwaltschaft eine Überprüfung aller Abgeordneten als verfassungswidrig erkläre. Er verlas einen "Offenen Brief der Volkskammerfraktion Bündnis 90 Grüne" an alle im Parlament vertretenen Parteien, sich der Überprüfung ihrer Akten zu stellen. Wolfgang Templin von der Initiative Frieden und Menschenrechte betonte eindringlich, es ginge jetzt darum, ob im Lande eine Demokratie durchgesetzt werden könne oder nicht. Deutlich sprachen sich verschiedene Redner dagegen aus, Rache oder Vergeltung gegen ehemalige Stasi-Mitarbeiter zu schüren.
Weitere Demonstrationen fanden in Leipzig, Halle, Jena, Karl-Marx-Stadt, Suhl und Erfurt statt.
(Berliner Zeitung, Fr. 30.03.1990)
In Leipzig hat unterdessen das Bürgerkomitee "Runde Ecke", das sich mit der MfS-Auflösung beschäftigt, zur Teilnahme an einer Demonstration am kommenden Donnerstag [29.03.] ab 17.00 Uhr im Zentrum der Messestadt aufgerufen.
Mit dem Satz "Denn wir sind immer noch das Volk" wird gefordert, der Verdacht früherer Stasi-Mitarbeit von Abgeordneten müsse geklärt werden. Das Land brauche endlich eine integre, über alle Zweifel erhabene Regierung.
In Gera will sich die Stadtwahlkommission an die Parteien und Vereinigungen mit der Empfehlung wenden, den Bewerbungsunterlagen der Kandidaten für die Kommunalwahlen deren eidesstattliche Erklärung beizufügen, dass sie nicht Mitarbeiter oder Informant des ehemaligen MfS gewesen sind.
(Neues Deutschland, Mi. 28.03.1990)
Auf einer Kundgebung in Potsdam spricht u. a. Steffen Reiche von der SPD.