Als Frage aller Fragen bezeichnete Michail Gorbatschow am Dienstag die Anerkennung der Nachkriegsrealitäten in Bezug auf die europäischen Grenzen. Vor Beginn seines Gesprächs mit DDR-Ministerpräsident Hans Modrow erklärte Gorbatschow vor Journalisten: "Sollte jemand im Prozess der Vereinigung beider deutscher Staaten revanchistische Pläne wiederbeleben wollen, ist das eine unverantwortliche Politik und beschwört sehr ernste Folgen herauf."
"Wir alle müssen sehr aufmerksam sein und so handeln, dass in dieser Zeit des Umbruchs nichts zerstört wird, was früher geschaffen wurde und die Möglichkeit bot, dass sich die Prozesse so entfalten konnten", betonte Gorbatschow. Sowohl die Interessen und Hoffnungen der Deutschen in beiden Staaten als auch die Interessen der anderen Europäer müssten berücksichtigt und gebührend realisiert werden. Wenn sich der Prozess der deutschen Vereinigung in den europäischen Prozess einordne und dadurch schließlich ein neues Europa mit neuen Beziehungen entstehe, werde das auf allen Seiten Verständnis finden.
Gorbatschows Erklärung betraf ohne Zweifel das wichtigste Thema der Dienstag-Gespräche im Moskauer Kreml. Noch dem Treffen Modrow-Gorbatschow empfing der sowjetische Partei- und Staatschef die gesamte DDR-Abordnung, In der nahezu alle in der Regierung der nationalen Verantwortung mitarbeitenden Parteien und Gruppierungen vertreten waren. Eine Begegnung der Delegation mit Premier Nikolai Ryshkow hatte den Arbeitstag eingeleitet.
In entscheidenden Fragen der europäischen Entwicklung, so Hans Modrow auf dem Rückflug gegenüber DDR-Korrespondenten, bestehe zwischen beiden Staaten Übereinstimmung. Erhärtet worden sei insbesondere der Standpunkt, dass der deutsch-deutsche Vereinigungsprozess noch viel stärker in den gesamteuropäischen Prozess eingebunden und in überschaubaren Etappen vollzogen werden muss. Die sowjetische Seite habe darüber informiert, dass sie noch für die kommende Woche ein erstes Expertentreffen zur Vorbereitung der Konferenz "4 plus 2" vorgeschlagen habe. Modrow hatte das Interesse der DDR an einem schnellen Zustandekommen einer solchen Konferenz geäußert. Wie TASS am Abend meldete, erteilte Gorbatschow dem Streben nach einer Annexion der DDR, einer Politik der "vollendetet Tatsachen" eine deutliche Absage.
Über weitere Themen der Gespräche unterrichteten die Regierungssprecher Wolfgang Meyer und Gennadi Gerassimow die Presse in Moskau. So sei die Einbindung eines vereinigten Deutschlands in die NATO als nicht akzeptabel abgewiesen worden. Minister Dr. Wolfgang Ullmann habe sie sogar als "Fortsetzung des kalten Krieges" bezeichnet. Beide Seiten hätten ihren Willen zu weiterer ökonomischer Zusammenarbeit bekundet. Schon für die allernächste Zeit sind Expertengespräche zu Wirtschaftsfragen anberaumt.
Hans Modrows Resümee: Durch die Reise nach Moskau sei die Möglichkeit geschaffen worden, nicht nur Standpunkte kennenzulernen, sondern auch künftig konstruktiv zusammenzuarbeiten. Alle Minister, die sich in der Diskussion geäußert haben, seien der Meinung gewesen, dass die freundschaftlichen Beziehungen zwischen DDR und UdSSR in neuer Weise, aber auch unter Beachtung Ihrer Traditionen fortzuführen sind.
Es berichten Detlef-Diethard Pries und Klaus Joachim Herrman
(Neues Deutschland, Mi. 07.03.1990)
Hand Modrow informierte über seine kürzlichen Gespräche mit Bundeskanzler Helmut Kohl. Der Bundeskanzler wolle einen schnellen Zusammenschluss beider deutschen Staaten herbeiführen.
Die Volkskammerwahl wird den Prozess der nationalen Vereinigung weiter forcieren. Die SPD gehe davon aus, dass sie nur in einer großen Koalition regierungsfähig ist. Ins Auge gefasst wird von ihr, die Regierung der nationalen Verantwortung könnte als Modell für eine Regierung dienen. Die PDS werde nur noch in der Opposition eine Rolle spielen können.
Als Schwerpunkte für die nächste Zeit nennt Hans Modrow u. a. die Verantwortung der vier Großmächte, den Prozess "4+2" intensiver zu gestalten und zu klären, wie der Prozess des Zusammenwachsens beider deutscher Staaten vonstatten gehen soll. Damit könne Bestrebungen bestimmter Kräfte der BRD entgegengewirkt werden, die Vereinigung unter Umgehung jeglicher Etappen und Zwischenschritte auf der Grundlage von Artikel 23 des Grundgesetzes der BRD zu vollziehen.
Die Hauptrichtungen der Verhandlungen mit der BRD seien die Währungsunion, die Wirtschaftsgemeinschaft sowie die soziale Absicherung.
Die Position der DDR, ein geordnetes, etappenweises Vorgehen im Einigungsprozess zu gewährleisten, stimme voll mit der der UdSSR überein, sagte Michail Gorbatschow. Die UdSSR lehne entschieden die Ausdehnung der NATO bis an die Oder-Neiße-Grenze ab. Ein einiges Deutschland dürfe weder der NATO noch dem Warschauer Vertrag angehören. Die Minimalvariante bestehe darin, dass die sowjetischen Truppen auf dem Territorium der gegenwärtigen DDR verbleiben.
Vor wenigen Tagen habe ihn Bush telefonisch über seine Gespräche mit Kohl in Washington informiert und mitgeteilt, sich mit Kohl darüber einig zu sein, dass ein vereinigtes Deutschland zur NATO gehören sollte. Er habe Bush gesagt, dazu eine andere Auffassung zu haben. Weder die USA noch die UdSSR dürften so handeln, dass die Sicherheit und die Interessenbalance in Europa gefährdet werden. Sollte das geschehen, würde die Sowjetunion entschlossen handeln. Dem Argument Bushs, dass von einem vereinten Deutschland als NATO-Mitglied keine Gefahr ausgehe, habe er entgegengehalten, dass dann ja auch eine deutsche Mitgliedschaft im Warschauer Vertrag denkbar wäre.
Rainer Eppelmann bedankte sich bei Michail Gorbatschow für die Befreiung vom Hitlerfaschismus, für den Bemühungen Gorbatschows um die Abrüstung, seinen Beitrag für die Entwicklung in der DDR. Für viele Menschen in der DDR sei das, was heute in der DDR geschehe, ohne Gorbatschow undenkbar. Gorbatschow sei der beliebteste Politiker in der DDR.
Wolfgang Ullmann äußerte das Ansinnen der BRD und der USA das vereinigte Deutschland der NATO angehören müsse, sei eine Fortsetzung des kalten Krieges, auch wenn man nach Kompromissen suche wie Hans-Dietrich Genscher. Er sehe in dieser Frage die eigentliche Schwierigkeit des Vereinigungsprozesses. Dies könne man nur durch die Entmilitarisierung Deutschlands lösen. Das sei auch der Sinn des Vorschlages von Hans Modrow zur militärischen Neutralität. Man müsse sich das Ziel setzen, beide Paktsysteme aufzulösen und durch politische Bündnisse zu ersetzen.
Gerd Poppe verwies auf die ersten freien Wahlen in der DDR in wenigen Tagen. Dies sei durch die Entwicklung in der UdSSR und anderen osteuropäischen Ländern möglich geworden, die die friedliche Revolution in der DDR gefördert habe, die zur Demokratie führte. Das drohe jetzt durch den Wahlkampf, insbesondere durch Politiker der BRD umzuschlagen. Es bestehe die Gefahr, dass die Wahlen durch die Politiker der BRD entschieden würden. Das könnte zu neuen Destabilisierungen führen. Er möchte betonen, dass die Bürgerbewegungen in der DDR mit großer Mehrheit für die Politik die Entmilitarisierung und Auflösung der Blöcke seien.
Matthias Platzeck schlug vor, ein gemeinsames Jugendwerk einzurichten, an dem sich dann auch die BRD beteiligen sollte. Es sollte von möglichst vielen nichtstaatlichen Stellen getragen sein. Die deutsche Vereinigung dürfe sich nur ohne Schaden für die Nachbarn im Osten vollziehen. Die Jugend könnte zur Entmilitarisierung einen wichtigen Beitrag leisten. Ferner gehe es um die ökologischen Fragen. Er sei nicht erfreut, dass die Zusammenarbeit bei der Einwicklung der Kerntechnik erweitert werden solle. Es sei wünschenswert, dass man die Ressourcen mehr für regenerative Energiequellen nutze.
Nach einer Aussage Hans Modrows hatte Rainer Eppelmann die Idee Michail Gorbatschow vor der Volkskammerwahl um ein Treffen mit den Ministern ohne Geschäftsbereich zu bitten.