Kundgebung für unabhängige neue Gewerkschaften im Land
Zehntausende demonstrierten in Karl-Marx-Stadt
Karl-Marx-Stadt (fp). Eine Demonstration, zu der die in der Demokratischen Oppositionellen Plattform vertretenen Parteien. Bürgerinitiativen und Gruppierungen aufgerufen hatte, fand gestern im Zentrum von Karl-Marx-Stadt statt. Die nach Angaben der Organisatoren 65 000 Teilnehmer demonstrierten für unabhängige Gewerkschaften und für das Streikrecht, um damit ihrer Forderung nach Sicherung der demokratischen Rechte der Werktätigen Nachdruck zu verleihen.
Als erster Redner ergriff Gerd S(...) vom Neuen Forum das Wort. Hauptaufgabe, so betonte er, sei gegenwärtig, die Einheit aller demokratischen Kräfte herzustellen. Das Entscheidende im Kampf um die Durchsetzung der demokratischen Forderungen stehe jedoch noch bevor: die Erneuerung der Wirtschaft. Anfang Dezember 1989 entstand in Betrieben der Stadt Karl-Marx-Stadt eine Initiativgruppe zur Bildung eines Rates der Werktätigen. Die Initiativgruppe sieht ihre Aufgabe darin, die Herausbildung von Belegschaftsräten zu forcieren, den Inhalt und die Aufgaben ihres Wirkens festzulegen. Gerd S(...) forderte, die alten Strukturen des FDGB aufzulösen und durch freie und geheime Wahlen unabhängige Gewerkschaften zu bilden.
Als Vertreter des Demokratischen Aufbruchs betonte Klaus Dieter P(...), Gewerkschaftsarbeit sei ein Stück Demokratie. Die zu bildenden freien Gewerkschaften seien gekennzeichnet durch Tarifautonomie und Streikrecht. Seine Organisation unterstütze die Bildung des Rates der Werktätigen. Zugleich erhob Klaus Dieter P(...) die Forderungen nach einem Gewerkschaftsgesetz und zu wählende Betriebsräte, deren Wirken in einem Betriebsverfassungsgesetz festzulegen sei.
Auch Markus S(...) (SDP) sprach dem FDGB das Recht ab, als freie Gewerkschaft gelten zu können, der ein Teil des alten Machtapparates im Staat gewesen sei und ein Teil dieses Apparates noch immer in alten Strukturen amtiere. Er forderte, die Werktätigen müssten ihre Rechte auf Selbstbestimmung und Durchsetzung ihrer eigenen Interessen in den Betrieben noch energischer verwirklichen.
Demokratie heiße, im Verhältnis zwischen Starken und Schwachen einen Ausgleich zu schaffen, sagte Andreas M(...) (Grüne Partei). Dabei gehe es darum, dass die Gruppen der Schwachen ihre Forderungen und Interessen gemeinsam durchsetzen. Er plädierte für freie Gewerkschaften in den Betrieben, für Gesellenvereinigungen im Handwerk und auch für Interessenvereinigungen der Bauern. Alle Gruppierungen sollten gemeinsam für demokratische Veränderungen auf allen Gebieten eintreten, verhandelt werden solle darüber am Tisch in freimütigem Disput, aber auch mit dem nötigen Druck.
Dr. Volkmar K(...) von der Vereinigten Linken schlug vor, dass alle oppositionellen Kräfte eine gemeinsame Plattform bilden. Seine Forderung, die alten Gewerkschaftsstrukturen nicht zu zerschlagen, sondern sie zu radikalisieren, traf auf keine Zustimmung der Demonstrationsteilnehmer. Ein Pfeifkonzert machte es dem Redner unmöglich weiterzusprechen.
Als Vertreter der Sozialdemokratischen Partei berichtete Werner S(...) über eine Beratung über den Stand der Auflösung der Strukturen des Ministeriums/Amtes für Nationale Sicherheit. Bezug nehmend auf das Thema der Demonstration im Zentrum der Bezirksstadt, setzte sich der Redner für eine souveräne Gewerkschaft mir Streikrecht ein. Die Gewerkschaften müssten das zweite Standbein der demokratischen Opposition sein. Zugleich warnte er vor einem Generalstreik, jedoch müsse das generelle Streikrecht als Ausdruck der Kraft der unabhängigen Gewerkschaft garantiert sein.
Solidarische Grüße des DGB überbrachte Ulrich G(...) von der Gewerkschaft ÖTV Rheinland-Pfalz. Er versicherte, die Gewerkschafter der BRD würden ihren Kollegen in der DDR im Ringen um Demokratie, Menschenrechte und freiheitliche Gewerkschaften brüderlich zur Seite stehen. Dieser Kampf müsse im eigenen Haus, also in der DDR, geführt werden. Nur wirklich freie Gewerkschaften können auch in der Politik wirksam werden, haben das Recht für saubere Umwelt oder gegen den sich auch in der DDR regenden Neonazismus aufzutreten. Starke Gewerkschaften werden gebraucht, so hob der Redner hervor, wenn das Kapital in der DDR-Wirtschaft Einzug halte, denn aus den Erfahrungen in der BRD wisse er, dass in der freien Marktwirtschaft das kleine Wort "sozial" schnell verdrängt werden könne. Alles was die Werktätigen in der BRD erreicht haben, sei auch ein Resultat von vier Jahrzehnten Kampf starker Gewerkschaften für die Interessen der Werktätigen.
Ein Vertreter der neu gegründeten CSU verlas zum Abschluss der Kundgebung einen Aufruf, in dem soziale Marktwirtschaft, ein einheitliches deutsches Vaterland, freies Unternehmertum, unabhängig von Parteizugehörigkeiten, gefordert werden.
Auf der Kundgebung und zur anschließenden Demonstration wurden zahlreiche Plakate mit Aufschriften wie "Einigkeit und Recht und Freiheit, Deutschland einig Vaterland", "DA - freie Wahlen 90 verweisen wir die SED in die Opposition", "Nie wieder Adolf Honecker Benito Ceauşescu - seid wachsam", "Deutschland, Sachsen, Chemnitz" und "Gysi und Verfassungsschutz - alte Fassade mit neuem Putz" mitgeführt. Es waren zahlreiche schwarz-rot-goldene sowie weiß-grüne Fahnen zu sehen. Am Rande der Demonstration wurden fast 50 vorwiegend jugendliche Teilnehmer mit "Rote raus", "Stasikinder" und "Ihr seid das Letzte" bedrängt, nachdem sie Fahnen mit dem DDR-Emblem zeigten. Der Demonstrationszug führte durch das Stadtzentrum und wurde gegen 19.45 Uhr beendet.
Freie Presse, Karl-Marx-Stadt, 09. Januar 1990
aus: Demokratiebewegung - wie weiter?, Dezember 1989-Januar 1990, Demokratiebewegung in der DDR, Materialien zur gewerkschaftlichen Bildungsarbeit, DGB-Bundesvorstand, Abt. gewerkschaftliche Bildung, ohne Ort und Datum