Kollege L(...), Mitglied der SDP, äußert in einem Brief an uns folgende

Gedanken zur Arbeit der "Guten Fahrt"

Ich bin Mitglied der Sozialdemokratischen Partei der DDR, und ich hoffe, dass Sie mir das Recht zubilligen, meine Meinung im Organ der SED-Organisation des Kombinates, auszudrücken. Meine Meinung soll sich auf die Arbeit und den Nutzen dieser Zeitung beziehen.

Beim Lesen der 2. November-Ausgabe beschlich mich ein ungutes Gefühl. Hier haben sich Kollegen zu Wort gemeldet, die sich mit dem Umbruch in unserem Land noch nicht abfinden können. Es ist der alte Stil, nur dass hier und da, weil es gerade Mode ist, eine leichte Kritik an verschiedenen Zuständen geübt wird. Man geht dabei kein Risiko ein, denn andere Medien haben diese Formulierungen bereits vorgedacht. Der "Guten Fahrt" würde es gut anstehen, wenn sie die Frage nach der eigenen Existenzberechtigung stellen würde. Woher leitet sich die SED überhaupt noch das Recht ab, als einzige politische Kraft in unserem Kombinat eine Zeitung herauszugeben und damit meinungsbildend auf die Beschäftigten Einfluss zu nehmen? Die Intoleranz gegenüber Andersdenkenden kommt schon im Titel der Zeitung zum Ausdruck: "Organ der Leitungen der Parteiorganisationen des VE Verkehrskombinates Karl-Marx-Stadt". - Welcher Parteiorganisationen? Der LDPD, der Bauernpartei oder gar der SDP? Zumindest in der jetzigen Zeit müsste es sich herumgesprochen haben, dass es außer der SED noch andere Parteien gibt. Die SED ist nicht mehr, die Partei.

Im Leitartikel (Standpunkt . . . ) auch der alte Stil. Ohne Zitat des Generalsekretärs geht es nicht. Früher war es Ulbricht, dann Honecker und jetzt Krenz. Keine eigenen Gedanken oder Formulierungen, oder sie sind identisch mit den Gedanken des großen Vordenkers. Der Kollege M(...) fragt an, welche Themen unter anderem demnächst in der "Guten Fahrt" behandelt werden sollten. ("Sind das Themen für unsere Leser?") Interessant wäre für alle Kombinatsangehörigen das Thema: "Wie geht es weiter mit dem Verkehrskombinat unter den Bedingungen der sozialen Marktwirtschaft in der DDR? Hat das Kombinat überhaupt noch eine Existenzberechtigung? Arbeiten nicht etwa mehrere kleinere Betriebseinheiten selbständig effektiver?

Es sollten doch einmal die Wirtschaftsfunktionäre zu Wort kommen und ehrlich erklären, was, ausgedrückt in Mark und Pfennig, unter dem Strich durch die Kombinatsbildung herausgekommen ist.

Unsere Wirtschaft muss, um in Zukunft weltmarktfähig zu sein, jeden Ballast abwerfen. Vielleicht ist die Institution "Kombinat" ein solcher Ballast. In dieser Richtung gibt es noch tausend Fragen, die behandelt werden müssen.

Noch ein Wort zum Führungsanspruch der SED. Auch ihr Generalsekretär hat ja mittlerweile bestätigt, dass eine Festschreibung dieses Anspruchs nicht mehr zeitgemäß ist, sondern dass er stets neu erkämpft werden muss. Dies kann aber nur im gleichberechtigten, demokratischen und fairen Meinungsstreit geschehen. Das Ergebnis dieses Meinungsstreites muss sich bei freien und geheimen Wahlen niederschlagen. Zum gleichberechtigten, demokratischen und fairen Meinungsstreit gehört aber, dass die Voraussetzungen der miteinander streitenden Parteien gleich sind. In diesem Punkt kann die SED unter Beweis stellen, wie ernst sie es mit der "Wende" meint. Entweder die SED stellt die organisierte Arbeit in den Betrieben ein und zieht sich auf die Territorien zurück, oder alle anderen Parteien und Gruppierungen ziehen unter gleichen Voraussetzungen (Räumlichkeiten, Versammlungsfreiheit im Betrieb, Betriebszeitung, Schaukästen, Freistellungen von der Arbeit u. a.) in die Betriebe ein.

Den Wirtschaftsfunktionären wird die Antwort darauf unter den Bedingungen der sozialen Marktwirtschaft nicht schwerfallen. Unter diesen Bedingungen hat eine Betriebszeitung nur noch Existenzberechtigung, wenn sie nicht mehr Sprachrohr der SED ist, sondern die Redaktion unabhängig wirken kann und allen demokratischen Parteien. Bürgerinitiativen und Gruppierungen gleichberechtigt Raum zur Meinungsäußerung gibt.

F. L(...), KIH Elan

aus: Gute Fahrt, Nr. 23, Dezember-Ausgabe, 29. Jahrgang, Kombinatszeitung des VE Verkehrskombinates Karl-Marx-Stadt

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