"Mit Sozialismus kannst Du denen im Moment nicht kommen!"

Diskussion über Perspektiven linker Betriebspolitik in der DDR

Zu einer Diskussion über die Perspektiven linker Betriebspolitik In der DDR traf sich PROWO mit Frank T(...), 36, Physiker, zuständig für Betriebsarbeit in der Vereinigten Linken (VL), z. Z. Mitarbeiter in einer Selbsthilfeobstgenossenschaft und Frau X, Mitarbeiterin in der Interessengemeinschaft (IG) Betriebe der PDS. In der letzten PROWO hatte die IG einen Artikel zur Wiederbelebung der Betriebsarbeit veröffentlicht

PROWO: Wie sieht in den Betrieben die Situation aus, was bewegt die KollegInnen und wie reagieren sie auf die Rekapitalisierung?

X: Die Stimmung in den Betrieben ist nicht gut. Die Kolleginnen machen die Erfahrung, dass sie eigentlich nichts beeinflussen können. Die wirtschaftliche Lage hat sich meiner Meinung nach verschärft, seitdem Rohwedder die Treuhandgesellschaft übernommen hat. Vor Rohwedder ging es nach meiner Einschätzung in den Betrieben um Sanierung. Das heißt es ging darum, das Überleben zu sichern. Dass selbst das von der Treuhand sehr schleppend gemacht wurde, ist eine andere Frage. Mit dem Rückzug von Gohlke war klar. Jetzt geht es nicht mehr um Sanierung, jetzt geht es nur noch um Verkauf, und das möglichst zum Billigtarif.

PROWO: Du sagst: Die Stimmung ist schlecht. Wie reagieren die Leute? Wird das alles auf die SED geschoben oder wächst auch eine Kritik an den Unternehmern? Findet eine Individualisierung über den Konsum, statt?

F.T.: Dies trifft für einen Teil der Leute zu. So müssen Kurzarbeiter, die bis zu 90 % ihres Nettoeinkommens weiterbekommen, z. T. überhaupt nicht arbeiten, haben den ganzen Tag frei. Da die Mieten noch nicht so hoch sind und einige Grundnahrungsmittel noch billig, kümmern sie sich um Westautos, Videogeräte usw.

Personalisierung ökonomischer Probleme

X: Ein Großteil des Frusts in der DDR ist daraus entstanden, dass die Leute nicht gut arbeiten konnten. Sie sagten: Jawohl, DM verdienen, aber eben auch gut arbeiten. Man steht nicht mehr rum, der Wasserkopf ist weg, und sie machen jetzt die Erfahrung, dass das nicht greift. Es greift auch deshalb nicht, weil es noch die alten Leute - Meister, Bereichsleiter - sind. Ökonomische Zusammenhänge werden also als Leiterproblem personifiziert, und in dem Zusammenhang heißt es natürlich "die alte SED". Denn die meisten von denen waren in der SED, die wenigsten sind allerdings noch in der PDS.

F.T.: Während man früher noch über Sachen diskutieren oder Ideen einbringen konnte, geht das überhaupt nicht mehr. Die Mitwirkungsmöglichkeiten, die früher bestanden, sind einfach weg. Jetzt ist Kapitalismus angesagt: Der Chef entscheidet...

X: Selbst die Manager machen die Erfahrung, dass sie wenig Spielräume haben. Innerbetrieblich sieht das so aus, dass - da man muss gar nicht von Klassenbewusstsein reden - das demokratische Selbstbewusstsein der Leute kaputt ist, dass sie also von sich aus diese Mitwirkungsmöglichkeiten noch weniger einfordern. Es gibt wenn man einzeln mit den Leuten spricht, eine enorme Unzufriedenheit, Unsicherheit Angst, weil keiner weiß, wie es weitergeht. Aber das wird zu wenig kollektiv artikuliert. Das hängt damit zusammen, dass in diesem rechtsfreien Raum, der sich in der DDR innerbetrieblich manifestiert, sehr viele Entscheidungen in subjektiver Willkür getroffen werden. Es wird einfach gesagt: Ich bin der Leiter...

Das Wissen vieler Kollegen, wie man sich bemerkbar machen kann und was man tun muss, ist unterentwickelt. Z. B. die Frage, nach welchem Kriterium die Kurzarbeiter festgelegt wurden: Inwiefern müssen Leiter begründen, warum der auf Kurzarbeit geht und der nicht? Das Schlimme ist, dass die Leute sogar sagen: "Wir wollen Kurzarbeit. Wir wollen ja unseren Betrieb retten". Das wird für euch schwer nachzuempfinden sein, dass unsere Leute mit ihrem Betrieb wirklich verbunden sind. Und wenn sie dann noch mitbekommen, dass nur die "Kleinen" in Kurzarbeit gehen, aber nicht die Leiter, darin wird der Frust groß. Aber er wird nicht kollektiv artikuliert.

PROWO: Ein Teil der Unternehmer scheidet aus dem Tarifverbund aus und versucht, tariffreie Zonen zu errichten. Sind das Einzelfälle?

X: Ich kenne leider keine genauen Zahlen. Das war nach den erfolgreichen Tarifabschlüssen der IG Metall der Fall. Ich kann das nur für Brandenburg sagen, denke aber, dass das nicht nur für da gilt. Es hat nach den Abschlüssen Austritte aus dem Unternehmerverband gegeben, um an diese Tarifabschlüsse nicht gebunden zu sein.

Atomisierung...

PROWO: In dem Aufsatz des PDS-Wirtschaftsexperten Klaus Steinitz "Kann es eine soziale und ökologische Marktwirtschaft geben?" argumentiert er: "... - eine allgemeine, der Produktivitätssteigerung stark vorauseilende Lohn- und Einkommenserhöhung wurde die Wettbewerbsfähigkeit und damit die weitere Existenz der Unternehmen gefährden". (S. 82) Inwieweit akzeptiert ihr gesamtwirtschaftliche Zwänge, um Betriebe lebensfähig zu erhalten? Wie geht Ihr damit um, wenn man Kapital haben will, um Arbeitsplätze zu bekommen, und andererseits soziale Interessen wahrnehmen will? Ordnet Ihr Euch unter?

F.T.: Die letzten Tarifkämpfe wurden noch mit einer relativ intakten Betriebsorganisation geführt. Die Arbeiter sind jetzt in einer absoluten Defensivposition. Es gibt gar keine Möglichkeit, wesentlich einzugreifen, zu organisieren oder über irgendwelche Formen des Kampfes, des Widerstandes zureden. Wenn man Arbeitslosigkeit in einer Größenordnung von 10, 20, 30 Prozent hat, ist das absurd. Die, die Arbeit haben, verdienen so viel, dass sie leben können, und den anderen geht es in absehbarer Zeit an den Kragen. Jetzt noch nicht, weil die Mieten und Tarife noch gering sind aber sobald sie im nächsten Jahr steigen, wird das eine ganz harte Sache. Und damit setzt ein Konkurrenzkampf zwischen den Arbeitern ein, der so massiv ist, dass du keine Solidarität mehr zusammenbekommst. Das wird noch scharfe Reibereien zwischen Ossis und Wessis geben. Denn die Ossis werden natürlich in den Westen fahren und dort jede Arbeit annehmen, zu geringen Löhnen. So wie es läuft, ist es der große Sieg des Kapitals.

X: Genau wie die Ursachen personifiziert werden, gibt es eindeutig eine Atomisierung im Verhalten. Und die gibt es bei uns in einer ziemlich groben Form. Für uns ist das neu. Ich empfinde es als außerordentlich schlimm, wenn dieselben Leute, mit denen man vorher reden konnte, jetzt plötzlich mauern. Aber es gibt auch ein Beispiel aus unserem Betrieb, wo ein ganzer Bereich geschlossen in Kurzarbeit gegangen ist. Das ist keine aktive Solidarität aber eine Form von Zusammengehörigkeit: Wir gehen alle in Kurzarbeit. Es gibt also Ansätze, wo Leute zumindest versuchen, ihre eigenen Vorstellungen darüber durchzusetzen, wie man das alles sozial gestalten kann. Es gibt ein Bewusstsein über gemeinsame Interessen, es gibt aber keine gemeinsame Aktionsbereitschaft. Ihr müsst auch sehen: Selbst wir in der IG (Interessengemeinschaft Betriebe in der PDS) haben viele Wochen lang von der Position aus diskutiert, dass es unsere Betriebe sind. Wir gehen auch mit Personalabbau mit, wenn das Management nachweisen kann, dass damit ein wichtiger Beitrag zum Überleben des Betriebs geleistet wird. Wir müssen uns jetzt erst mit dem Gedanken vertraut machen, dass es ja nicht mehr unsere Betriebe sind.

Es gibt unter anderem deshalb im Moment keine Handlungsfähigkeit, weil die bestehenden Gewerkschaftsstrukturen zunehmend durch Umstrukturierung, Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit zerfallen. Und indem der DGB unseren eigenen Gewerkschaftsapparat total ausschaltet, wird das Selbstbewusstsein unserer Gewerkschaften völlig kaputtgemacht. Wenn man will, dass die Leute sich wehren, dann muss man versuchen, dass alles mit einem Maximum an Öffentlichkeit geschieht. Geschäftsführer müssen die Entscheidungen offen legen; Entscheidungen z.B. über Kurzarbeit müssen in den Kollektiven beraten werden. Und mit dieser Forderung lässt sich Solidarität erreichen. Denn das Gefühl, überrollt zu werden, dass etwas passiert, worauf sie keinen Einfluss mehr haben, das ist bei allen gleich.

F.T.: Ja. Das ist das Gefühl, dass nichts mehr steuerbar ist, dass sich die Sache in völlig chaotischen Bahnen bewegt. Und es gibt auch keinen Ausweg. Es fällt äußerst schwer, den Leuten einen gewissen Optimismus zu vermitteln, sie daran glauben zu lassen, das irgendetwas, was sie machen, Sinn hat.

Beschäftigungsgesellschaften = Beschäftigungstherapie ?

PROWO: Gibt es Ansätze politischer Arbeit mit Arbeitslosen?

F.T.: Im Rahmen der Bürgerbewegungen und der VL: Es gäbe eine ungeheure Chance (schon wieder DIE JAHRHUNDERTCHANCE?, red.). Diejenigen, die mit Null Stunden in Kurzarbeit sind, haben wahnsinnig viel Zeit. Und die Betriebe, die nicht verkauft sind, sind ja auch noch da. Wenn man also ein bißchen Geld hätte, könnte man eine Art Beschäftigungsgesellschaften gründen, die arbeiten, ohne Lohn zu zahlen, aber etwas Sinnvolles auf die Beine stellen. So etwas müsste aber vom Arbeitsamt finanziert werden. Und das bleibt dummerweise aus, obwohl es eine große historische Chance ist wenn die, die aus dem Produktionsprozess herausgedrängt wurden, sich selbst organisieren. Das ist der einzige Ausweg, den ich sehe.

PROWO - Wetterbericht

PROWO: Du hast auf unsere Frage: Heißer Herbst - Kommt er oder nicht - gesagt, dass es zumindest gemeinsame Interessen gibt. Gibt es vielleicht einen heißen Winter?

X: Oder vielleicht einen heißen Frühling? In den Tarifauseinandersetzungen der IG Metall war ich sehr überrascht über die sehr spontane und ziemlich entschlossene Streikbereitschaft der Arbeiter. Die Mehrheit der damals Streikenden waren Arbeiter, die natürlich für mehr Geld, für unmittelbare materielle Dinge gestreikt haben. Die Interessenidentität war im Streik Anfang Juli ziemlich deutlich ausgeprägt. Das ist im Moment zerbrochen.

PROWO: Woran liegt das, dass sich die Bedingungen für einen Streik verschlechtert haben? Nur, weil wegen Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit die Organisationen auseinander gebrochen sind?

X: Die Leute sehen die Existenznotwendigkeit noch nicht. Das, wofür sie damals gestreikt haben, haben sie erreicht. Und was sie noch nicht erreicht haben, meinen sie, lässt sich lösen, wenn man die alten Leiter rausschmeißt. Das ist als gesamtwirtschaftliches Problem nicht in den Köpfen. Und unter denen, die aus dem Betrieb raus sind, gibt es kaum Zusammenhalt. Wir als IG wollen Kontakte zum Arbeitslosenverband bekommen.

PROWO: Du hast vorhin schon angedeutet, dass du Kritik am DGB hast.

X: In einer Situation, in der die Leute sowieso ihr Selbstbewusstsein verloren haben und die Strukturen für sie nicht mehr greifbar sind, kommt nun noch der DGB und sagt: Den neuen Apparat, den sich die Leute mehr oder weniger selbst geschaffen haben, übernehmen wir nicht. Wir übernehmen nur die einzelnen Mitglieder. Und ich finde, das frustriert zusätzlich. Die Leute erhoffen sich vom DGB eine ganze Menge. Er ist für sie die Inkarnation einer starken Gewerkschaft. Aber jetzt werden wir auch vom DGB wieder vereinzelt. ... Ich hoffe doch, dass es wenigstens dabei bleibt, dass wir unsere Gewerkschaftsvertreter selbst wählen können und dass das unter der Diktion erfolgt dass Linke nicht ausgegrenzt werden. Der Fall mit Bernd H(...) in Salzgitter ist doch ein enormes Alarmzeichen. ...

Ich möchte noch mal etwas zu den Beschäftigungsgesellschaften sagen. Das sind schon Möglichkeiten, wo sich Leute artikulieren können und wo kollektive Verhaltensweisen ausgeprägt werden. Insofern muss man das unterstützen, wo es entsteht und vielleicht sogar initiieren, wo es möglich ist. Man darf sich nur keine Illusionen darüber machen, zu welchen wirtschaftlichen und sozialen Resultaten das führt.

PROWO: In diesem Rahmen wird aber doch eher ein Selbstbewusstsein als UnternehmerInnen eingeübt als tatsächlich kollektive Verhaltensweisen. Gerade auch, weil in den Marktstrukturen diejenigen erfolgreicher sind, die sich ausschließlich an Kriterien kapitalistischer Effizienz orientieren.

X: Ja. Mir geht es aber um die individuelle Befindlichkeit. Und du kannst keine linke Politik machen. die nicht daran anknüpft. Es geht auch darum, dieses Ohnmachtsgefühl zu attackieren.

PROWO: Beschäftigungsgesellschaften haben auch deshalb bei Linken in der BRD einen extrem schlechten Ruf, weil sie ausgespielt wurden gegen Forderungen nach Vergesellschaftung z.B. in der Stahlindustrie.

Von der Avantgarderolle zum Pragmatismus?

X.: Bei uns gibt es keinen Boden für Forderungen nach Vergesellschaftung oder gesellschaftlichem Eigentum. Das ist einfach abgegessen für einen längeren Zeitraum. Und das ist etwas, wo wir uns durchfressen müssen. Selbst wenn mir klar ist, dass ihr recht habt über die Grenzen des Betriebsverfassungsgesetzes, über die Grenzen von Beschäftigungsgesellschaften, sehen das viele Kollegen noch lange nicht so.

PROWO: Wenn ihr aber die Position eigentlich habt, dass die Politik auf gesellschaftliche Veränderungen hinausgehen muss, ist es dann nicht trotzdem notwendig, diese Position wenigstens durchschimmern zu lassen, selbst wenn viele Leute in den Betrieben damit noch nichts anfangen können? Du hast einmal gesagt, ihr habt Angst vor einer Avantgarderolle, was wir aus der Geschichte heraus auch verstehen können. Besteht nicht die Gefahr, in den umgekehrten Fehler zu verfallen?

X: So habe ich das nicht gemeint. Mir geht es darum, sehr empfindsam und sorgfältig abzuschätzen, wo man solche Dinge sagen kann und wie man sie sagt. Man darf z.B. nicht mit den abgenutzten Begriffen argumentieren. Aber du kannst natürlich in bestimmten Situationen sagen: Ja, das ist eben Marktwirtschaft. Und da kommt auch was rüber. Es ist nur real so, dass du keine "sozialistische Agitation" - ich sage das mal mit diesem dogmatischen Begriff - machen kannst. Das können Personen sagen, und wenn die eine persönliche Autorität haben, dann kommt das auch rüber. Aber du kannst das schwer programmatisch sagen.

PROWO: Wir können auch nicht sagen, wie Sozialismus wirklich aussehen könnte. Problematisch finden wir aber, dass z.B. Steinitz das Problem einseitig in Richtung Marktwirtschaft auflöst, wenn er sagt: "Marktwirtschaft löst zwar auch nicht alles, aber sie ist sozial und ökologisch zu gestalten". Wo gibt es da noch Unterschiede zu SPD-Konzepten?

X: Dazu sage ich gleich was. Zum Punkt vorher. Es gibt keine wissenschaftliche Ökonomie für den Sozialismus. Es gibt keine Theorie. Es gibt das auch nicht als Auswertung der 40 oder 70 Jahre sozialistischer Versuche. Dadurch ist es sowieso schwer mit Leitbildern zu operieren. Oder andersherum: Weil es das nicht gibt wird jeder, der jetzt von Sozialismus oder gesellschaftlichem Eigentum spricht, in den Ruf kommen: Der will das Alte, der will die Mauer wiederhaben.

Zu Steinitz: Seinem Konzept liegt der Wunsch zugrunde, in der DDR die gleichen Vorteile der Marktwirtschaft wie in der BRD zu bekommen. Weil die Leute in der DDR das auch wollen, und wir an deren Bedürfnissen nicht vorbeikönnen, schließen wir uns diesem Ziel an. Was in der DDR wirkt, ist jedoch - im Sinne des Kapitals funktionierende - Marktwirtschaft. Steinitz übersieht jedoch, dass deshalb selbst solche Forderungen nur in Kämpfen durchgesetzt werden können.

aus: PROWO, Projekt Wochenzeitung, Nr. 6, 28.09.1990

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