Gesprächsverlauf Initiative "Rat der Werktätigen"

Karl-Marx-Stadt am 9.1.1990, 17.30 Uhr

Anwesend: Ca. 20 Personen (m/w) der unterschiedlichen Großbetriebe in Karl-Marx-Stadt (in etwa mit Liste im Anhang identisch.)

Ich erreichte die Sitzung (Veranstaltungsort war eine Aufenthaltsbaracke der Zooverwaltung K-M-St.) mit meinem Begleiter leider verspätet, jedoch zum interessantesten Diskussionspunkt:

Im Radio-Interview vom Nachmittag wäre die Gründung einer "unabhängigen Interessensvertretung der Werktätigen" angekündigt worden, kritisiert einer, dabei sei doch klar gewesen: Gewerkschaft wolle der RdW nicht sein! (zum Verständnis: "unabhängig" steht oftmals synonym für "gegen": hier FDGB ) Auch die Berichterstattung der Demonstration vom Vortage in der "Freien Presse" (Ex-Blatt der SED - Bezirksleitung) wird hierin kritisiert.

Belegschaftsräte und Gewerkschaften sind im Verständnis des Versammlungsleiters jetzt deutlich zu unterscheiden. Die Frage der künftigen gewerkschaftlichen Struktur wird in dem Kreis als jetzt nicht wichtig angesehen, einerseits sollen Aufgaben der Gewerkschaften aufgenommen werden, andererseits sollen funktionstüchtige und neu strukturierte BGLs (Betriebsgewerkschaftsleitungen) weitergeführt werden - weiteres ergäbe sich zum späteren Zeitpunkt.

Die Notwendigkeit für Belegschaftsräte erwachse aus der Tatsache nun anstehender Verhandlungen der Firmenleitungen mit westlichen Investoren und den Eigentumsverhältnissen an den Betrieben, die nun tatsächlich in Belegschaftseigentum übergehen müssten. (s. auch Dokument: Die Aufgaben des RdW).

Kurz, man will Mitsprache bei den angehenden Verhandlungen, will die Konsequenzen nicht nur sozial abgefedert sehen, sondern das entscheidende Wort mitreden bei Investitionen und Produktlinien: "Damit in unseren Betrieben nicht etwas passiert, was wir später nicht zurückschrauben können". Selbstbewusstsein wird deutlich, wenn über anstehende/vermutete Finanzaktivitäten z.B. der "Dresdner Bank" geredet wird.

Von den meisten BGLs - soweit existent - werde aber die Einmischung der Belegschaft in die ökonomische Entscheidungen des Betriebes abgelehnt. Die vorhandenen BGLs verhielten sich heute entweder opportunistisch oder zögen sich auf das ihnen verbliebene Häuflein zurück, ohne Machtpositionen zu räumen. Oftmals müssten dann neulegitimierte Belegschaftsvertreter mit der Direktorenebene eigenständig Gespräche aufnehmen - oftmals wäre man hier allerdings auf "offene Ohren" gestoßen. Deshalb müssen sich - wo es um die Zukunft der Betriebe geht - jetzt die neuge-/zuschaffenden RdWs einschalten.

Regelungen zu Betriebsräten hätte zwischenzeitlich auch Wirtschaftsministerin Luft angekündigt - im Rahmen des Volkswirtschaftsplans 1990. Hier würde z.Zt. die Teilhabe der Leitungskader (leitende Angestellte/ Meister) an dem neuen Organ diskutiert - die Runde der Versammelten spricht sich für eine einheitliche Interessensvertretung aus.

Es folgt eine kurze Darstellung der angestrebten Strukturen der RdWs in den Betrieben (s. auch entsprechendes Dokument). Die Frage der Organisationsanbindung auf die Direktoratsebene scheint noch nicht ausdiskutiert, wir aber von einer Anzahl der Sprecher begrüßt. Praktische Fragen treten immer wieder in den Vordergrund.

All die derzeitigen praktischen Ansätze (erste Urwahlen von Betriebsräten haben stattgefunden) und Absichten finden allerdings ohne gesetzliche Grundlage statt, daher äußert man immer wieder Beratungsbedarf an die bundesrepublikanische Adresse. Das dortige Betriebsverfassungsgesetz könnte aber nur beschränkt Richtschnur sein, da es entscheidende Fragen der wirtschaftlichen Mitbestimmung und Planung des Unternehmens ausklammere. Insofern habe man die Kritik an der "Betriebsrats-Orientierung" bundesrepublikanischer Kollegen auch aufgenommen. Allerdings bleibt ein großes Interesse am Text des BVerfG (und dadurch die Gesetzessystematik) und mit westdeutschen Kollegen/Kolleginnen ins Gespräch zu kommen. Ein Anschreiben an den DGB Kreis Düsseldorf (Partnerstadt von Karl-Marx-Stadt) blieb bislang unbeantwortet.

Unter Verschiedenes wurde in der zweistündigen Sitzung auf das Entstehen des oppositionellen Wahlbündnisses '90 eingegangen, und verabredet hierzu eine Wahlempfehlung bei Nachfrage im Betrieb abzugeben.

In den Betrieben wachse der Wille ein "nächstes Manöver der SED" mit einem Generalstreik zu beantworten, wie insgesamt die "Streikwaffe" entschiedener einzusetzen.

aus: Demokratiebewegung - wie weiter?, Dezember 1989-Januar 1990, Demokratiebewegung in der DDR, Materialien zur gewerkschaftlichen Bildungsarbeit, DGB-Bundesvorstand, Abt. gewerkschaftliche Bildung, ohne Ort und Datum

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