Eine Lobby für die Schwachen
Interview mit Dr. Klaus Grehn, Präsident des Arbeitslosenverbandes Deutschland e. V.
die andere: Was will der Arbeitslosenverband sein? Eine bundesweite Wärmehalle für Arbeitslose?
Grehn: Das ist lax formuliert für ein schlimmes Problem . . . Wir wollen den Betroffenen direkt helfen. 3 000 bis 5 000 Bürger sprechen wöchentlich bei uns vor. Es gibt 1 500 Selbsthilfegruppen, Rechtsberatung, auch psychologische Beratung. Vor mir saßen Männer, die weinten. Arbeitslosigkeit - konnte sich keiner vorstellen. Wir sind eine Lobby für die sozial Schwachen.
die andere: Das behaupten "gestandene" Parteien auch . . .
Grehn: Sicher. Worte. Vor den Wahlen haben uns Altparteien Listenplätze angeboten. Wir wollen nicht vereinnahmt werden. Wir unterscheiden auch bei den Betroffenen nicht. Es wäre ein Unding, die sozial Schwachen nun auch noch zu differenzieren nach Schuhgröße, Haarfarbe, Parteizugehörigkeit oder Nationalität. Manche drücken uns in die "linke Ecke". Alte Seilschaften der SED und so was. Die einzige Partei, von der wir Geld bekommen haben, ist die SPD: 100 000 Mark, VOR der Währungsumstellung.
die andere: Wie können Sie wirksam werden?
Grehn: Ich nannte einiges bereits. Hinzu kommen ABM-Maßnahmen, wir bieten. in Alternative zu den Behörden, Arbeitsplätze an. Von der Drechslerei bis zur Schneiderei. Einflussnahme auf politische Entscheidungsträger ist über die Landesverbände möglich. Einflussnahme auf die Landesregierungen, die der Entwicklung ja auch nicht allgegenwärtig und entscheidungssicher gegenüberstehen. Die ganze östliche Gesellschaft steht vor dieser plötzlichen, massiven Arbeitslosigkeit.
die andere: Dieses Jahr war ein Übergangsjahr. Womit müssen wir im nächsten Jahr rechnen?
Grehn: Wir gehen von 3 Millionen Arbeitslosen aus. Im September war ich zu einer öffentlichen Anhörung im Bundestag. Ich saß neben Herrn Franke von der Bundesanstalt für Arbeit. Der wollte die Zahl nicht akzeptieren. Inzwischen nennt er die gleiche Zahl. Ich möchte Ihnen das Problem vorrechnen. Die Lohnkosten im September 1990 lagen bei 31 Milliarden Mark. Die noch Beschäftigten spielen 3 Milliarden Mark an Steuern zur Unterstützung für Arbeitslosigkeit ein. Fehlen 28 Milliarden. Drei Viertel aller Steuern der östlichen Bundesländer müssten für dir Arbeitslosen aufgewendet werden!
die andere: Was sich derzeit auf Arbeitsämtern abspielt, ist tragisch. Die mentalen Veränderungen einer gesamten Bevölkerung, die darauf nicht vorbereitet sein konnte . . .
Grehn: Sie sind depressiv, lethargisch, und das wird im nächsten Jahr noch zunehmen! Viele schieben das von sich, solange sie noch Arbeit haben. Doch dann? Mit der Haltung: Es wird schon nicht so schlimm werden, konnte man vielleicht das Jahr 90 überstehen. Durch Umverteilung im Haushaltsbudget der Familien, durch Aufnahme von Krediten . . . Aber: Allein im Land Brandenburg beträgt die Pro-Kopf-Verschuldung bereits 1 600 Mark. Es gibt regelrechte Zinshaie, auch eine neue Realität! Wenn die Tarifverhandlungen auslaufen, wenn die Konkurse zunehmen werden.
die andere: Was ist zu tun?
Grehn: Alle politischen Gruppierungen sagen, sie wollen den sozial Schwachen helfen. Nehmen wir sie beim Wort! Alle haben die soziale Marktwirtschaft gewollt. Nun müssen sich auch alle sozial verhalten! Wer handelt was für die Arbeitslosen aus? Wer vertritt sie gegenüber den politischen Entscheidungsträgern?
Text und Interview:
Eckhard Mieder
die andere, unabhängige Zeitung für Politik, Kultur und Kunst, Nr. 52, Fr. 28.12.1990