Willenserklärung

von Belegschaftern der Kokerei des VEB BV Lauchhammer

Belegschafter der Kokerei des VEB Braunkohlenveredlung Lauchhammer wenden sich in Sorge um unser Land an die Belegschafter unseres Betriebes, an die Bürger der Stadt Lauchhammer, an die Bürger unseres Kreises, an die Bürger des ganzen Landes.

Sorgenvoll müssen wir sehen, dass sich die Bestrebungen rechter und linker Kräfte mehren, die durch das Volk nach 40 Jahren Parteidiktatur in einer friedlichen Revolution erzwungenen demokratischen Veränderungen aufzuhalten.

Während die Rechten die neuen demokratischen Freiheiten für ihre Ziele auszunutzen suchen, wollen die Linken alte Strukturen erhalten oder wieder herstellen.

Belegschafter dies VEB BV Lauchhammer, Bürger unseres Landes!

Unterstützt durch Eure Unterschrift unter diese Willenserklärung, unter diese Forderungen, die weitere demokratische Entwicklung unseres Landes! Gebt Eure Unterschrift eingedenk der Worte von Christoph Hein: "Die Freiheit des Menschen ist nur in einer Schlacht zu gewinnen, in einer Revolution oder in einer Reformation. Verloren aber, wird die Freiheit nie plötzlich. Die Freiheit endet nicht unerwartet oder schlagartig, die Freiheit stirbt stets millimeterweise. Und mindestens für einen Millimeter trägt jeder von uns Verantwortung".

Deshalb wollen wir, deshalb verurteilen wir, deshalb fordern wir...

1 Wir wollen eine Vertragsgemeinschaft zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland. Das Ziel muss sein, in naher Zukunft ein einiges Deutschland zu erreichen.

- Ein einiges Deutschland mit Grenzen, die Sicherheit für alle unsere Nachbarn geben.

- Ein einiges Deutschland mit allen demokratischen Freiheiten, Rechten und Pflichten für das Individuum und für gesellschaftliche Gruppierungen.

- Ein einiges Deutschland mit größter sozialer Gerechtigkeit und Sicherheit.

- Ein einiges Deutschland, in dem Volkseigentum an Produktionsmitteln eine wirtschaftliche Größe im wahrsten Sinne des Wortes wird.

- Ein einiges Deutschland im Rahmen eines geeinten friedlichen Europa.

2 Wir verurteilen neonazistische Schmierersten und andere Aktivitäten Jugendlicher, die national-sozialistischen Einflüssen folgen. Ebenso verurteilen wir Ausländerfeindlichkeit und Feindlichkeiten gegen jüdische Menschen.

Wir wollen - und dazu fordern wir auch alle Bürger unseres Landes auf - gegen diese menschenverachtenden Erscheinungen vorgehen, wie und wo sie auch immer auftreten mögen.

3 Wir fordern die schnelle und kompromisslose Auflösung der Nachfolgeeinrichtung des Ministeriums für Staatssicherheit, die Auflösung einer Einrichtung, die gegen das Volk gerichtet ist.

4 Wir fordern Bestrafung derer, die die Vernichtung von Akten des Staatssicherheitsdienstes angewiesen und derer, die diese Vernichtung bewerkstelligt haben.

5 Wir protestieren schon jetzt gegen eine von der Gewerkschaft MSK angedachte Vorruhestandsregelung für ehemalige Staatssicherheitsleute und Staatsfunktionäre. Es darf nicht sein, dass das Volk erneut die Zeche bezahlen soll.

6 Wir lehnen ab, dass ehemaligen Staatssicherheitskräften und Staatsfunktionären Abfindungen, Umzugsgelder, Überbrückungsgelder gezahlt werden.

Wir fordern, diese Personen schnell in den Arbeitsprozess einzugliedern und nach dem Prinzip "gleicher Lohn für gleiche Arbeit" zu bezahlen.

7 Wir sind dafür, dass ein Verfassungsschutz für unser Land gebildet wird. Wir sind aber erst dann dafür, wenn die demokratischen Sicherheiten geschaffen sind, damit es ein Verfassungsschutz für und nicht gegen das Volk wird.

8 Wir fordern die schnelle Bestrafung der Staats- und Wirtschaftsfunktionäre, die durch Korruption, durch kriminelle Manipulationen, durch Unfähigkeit und durch Vetternwirtschaft den Ruin unserer Betriebe, den Verfall unserer Städte und die Zerstörung unserer Umwelt herbeigeführt haben. Wir wollen keine "rumänische Lösung", wir warnen aber vor einer Verschleppungstaktik.

9 Wir verstehen nicht, dass der Hausarrest für Erich Honecker rechtlich nicht zu begründen ist. Wie war denn dann der durch diesen Mann angeordnete Hausarrest - und das über viele Jahre - für Herrn Robert Havemann zu begründen? Hatten darüber etwa dieselben "Rechtssprecher" zu befinden?

10 Wir fordern die SED-PDS auf, nun endlich ihre verbal übernommene Verantwortung für den Verfall unserer Städte, für den Ruin unserer Betriebe, für die Demoralisierung unseres Volkes auch durch Handlungen zu belegen. Sollten denn nur wenige ehemalige "Spitzenfunktionäre" für alles verantwortlich sein?

11 Wir verlangen von der Parteiführung der SED-PDS, ihrem Anspruch - mit dem Gesicht dem Volke zugewandt - endlich auch gerecht werden zu wollen.

Deshalb fordern wir:

- die Offenlegung des Parteivermögens,

- die Offenlegung der Finanzierungsquellen für die Parteibetriebe, Parteihäuser, Ferienhäuser, Gästehäuser und aller anderen Parteiobjekte,

- die Offenlegung der Finanzierungsquellen für die Parteischulen und für die Institute des Marxismus-Leninismus,

- die Offenlegung der Geldsummen, die in den letzten 10 Jahren für die Finanzierung der SEW und der DKP aufgewandt wurden und die Offenlegung der Herkunft dieser Gelder,

- den Anstoß zu geben für die Ablösung aller Wirtschaftskader, die nicht durch Fachkompetenz, sondern durch ihr SED-Parteibuch in leitende Positionen gelangt sind,

- die Auflösung aller Institute für Marxismus-Leninismus und aller Parteischulen, wenn sie nicht allein durch Parteigelder finanziert werden können,

- die Überführung der Parteibetriebe, Gäste-, Ferien-, Parteihäuser und anderer Parteiobjekte in Volkseigentum. Damit gehören sie auch weiterhin den Parteimitgliedern der SED-PDS, denn auch sie sind das Volk.

Belegschafter der Kokerei, Belegschafter des VEB Braunkohlenveredlung Lauchhammer, Bürger unseres Landes!

Werdet durch Eure Unterschrift der Verantwortung für einen Millimeter unserer eigenen Freiheit gerecht!

Anmerkung der Redaktion:

Kollektive oder Werktätige, die zu dieser Erklärung Ihren Standpunkt oder Ihre Meinung sagen möchten, wenden sich bitte an uns. Wir werden auch eingehende Unterschriften weiterleiten.

aus: BVL, Nr. 2/90, 11. Jahrgang, 2. Januar-Ausgabe, Betriebszeitung des VEB Braunkohlenveredlung Lauchhammer Betrieb des VEB Gaskombinates "Fritz Selbmann" Schwarze Pumpe


Die Erklärung wurde am 11.01.1990 von M(...) K(...) auf einer Versammlung, zu der der Hauptabteilungsleiter, F(...) S(...), geladen hatte, verlesen. Die Willenserkärung erhielt an diesem Tag 58 Unterschriften.


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