"Im Schlaraffenland für 20 Pfennig essen gehen"

Vier Musiker aus Ost-Berlin haben in einer "Autonomen Aktion" einen Aufruf zur Beibehaltung des Zwangsumtauschs verfasst, um zu verhindern, dass die Preise in der DDR "astronomisch hochgehen" / Resonanz in der DDR bislang sehr gering

Vor drei Tagen haben vier Musiker in Ost-Berlin die "Autonome Aktion Prenzlauer Berg" gegründet und einen Aufruf zur Beibehaltung des Zwangsumtauschs verfasst. Im folgenden ein Interview mit den Gründungsmitgliedern: dem Sänger Arnfried S(...) (29) vom "gelben Warnfried" dem Sänger von "Feeling b", Ajoscha R(...) (42) und dem Bassisten Christoph Z(...) (22).)

taz: Warum setzt ihr euch für die Beibehaltung des Zwangsumtauschs ein?

Ajoscha: Der Wegfall des Mindestumtauschs, der ja nicht viel war, wird zu einem Wahnsinnsgefälle führen. Das heißt, dass Leute einfach nur aus der Not hier herkommen, weil sie drüben an der Existenzgrenze leben, und hier wie im Schlaraffenland für 20 Pfennige essen gehen können. Das kann man den Leuten nicht übel nehmen, aber für uns bedeutet das, dass hier alles überflutet wird und die Preise astronomisch hochgehen werden. In einigen Clubs haben sie jetzt schon gesagt, wir werden die Bierpreise hochhauen. Die DDR-Leute stehen dann vor der Tür, weil sie die Preise nicht bezahlen können.

Christoph: Wir wollen mit dem Aufruf die Stabilisierung der Lage unterstützen und auf Aspekte hinweisen, die andere in ihrer zeitlichen Ausgelastetheit gar nicht erblickt haben. So 'n normaler Arbeiter, der fühlt sich davon doch voll verscheißert. Die Inflation wird auch mit Zwangsumtausch nicht aufzuhalten sein.

Ajoscha: Aber ohne kommt die Katastrophe aber erst richtig ins Rollen, und wir haben keine Chance mehr, das in den Griff zu kriegen. Wir befinden uns momentan sowieso in einer sehr komplizierten Situation wegen der ganzen nationalistischen Hysterie für Großdeutschland. Und wenn dann noch dazukommt, dass sich die DDR-Bürger nicht mehr alles kaufen können, dann bricht alles zusammen. Das muss doch eskalieren, wir stehen doch schon jetzt kurz vor der Lynchjustiz und dem Bürgerkrieg. Dazu kommt dann, dass die ganzen Rechten, Faschos, Skinheads und Anhänger der Wehrsportgruppe "Hoffmann", die sich ja zum Großteil aus ehemaligen DDR-Bürgern zusammensetzt, hierher kommen und richtig Remmidemmi machen, wenn der Mindestumtausch wegfällt. Der Aufruf wurde vom 'Morgen' abgedruckt.

Wie soll die Aktion jetzt weitergehen?

Ajoscha: Wir haben alle politischen Oppositionsgruppen abgegrast. Ich persönlich habe mich mit dem Demokratischen Aufbruch unterhalten und mit Demokratie Jetzt. Dabei habe ich festgestellt, dass sie entweder schon Wahlkampf betreiben und Angst haben, unpopuläre Maßnahmen zu machen, die ihnen Wählerstimmen vergraulen könnten, oder sie stehen der Sache ohnmächtig gegenüber. Die einzige große Gruppe, die das positiv aufgenommen hat, war das Neue Forum und Stefan Heym. Bärbel Bohley hat das Schreiben zu Gysi mitgenommen.

Arnfried: Am 17. Dezember wollen wir Vertreter aller Parteien an den runden Tisch holen und über das Thema diskutieren, aber wahrscheinlich kommen nur das neue Forum und die Grünen, die anderen trauen sich nicht hinzukommen, weil das Thema unpopulär ist. Dann wollen wir Rundfunk und Fernsehen ranholen, um ihnen die Problematik klarzumachen.

Wart ihr schon bei Modrow?

Ajoscha: Das ist gar nicht so leicht, an Modrow ranzukommen, aber wir werden es schon schaffen.

Viel Zeit habt ihr nicht mehr, am Dienstag kommt Bundeskanzler Kohl.

Ajoscha: Hier entwickelt sich die Sache jeden Tag weiter. Vor einer Woche hätten uns alle ausgelacht, vor drei Tagen haben nicht mehr so viele gelacht, und morgen lachen noch viel weniger. Und übermorgen macht sich vielleicht auch Modrow schon Gedanken. Dann müssen wir eingreifen und an Modrow ran.

Glaubt ihr im Ernst, dass ihr die Aufhebung des Zwangsumtauschs stoppen könnt?

Ajoscha: Die Chance ist gering, wir können es nur mit allen Mitteln versuchen.

Habt ihr keine Probleme damit, dass ihr mit der Forderung nach Beibehaltung des Zwangsumtauschs eine Reglementierung befürwortet?

Ajoscha: Hier herrscht kein normaler Zustand. Es geht einfach nicht, dass bei diesem Wahnsinnspreisgefälle jeder in fünf Minuten Geschäfte macht, und der Arbeiter in der DDR der Dumme ist. Das hat nichts mit ausgrenzen zu tun.

Was ist unter der "Autonomen Aktion Prenzlauer Berg" zu verstehen?

Christoph: Autonom im Sinne des Begriffes wie er im Duden steht.

Ajoscha: Unabhängig und selbständig. Mit der autonomen Bewegung im Westen haben wir nichts zu tun.

Arnfried: Wir vertreten kein Parteiprogramm. Wir machen das aus einer Art inneren Unruhe.

Wollt ihr auch bei Kohl oder Seiters wegen der Beibehaltung des Zwangsumtauschs vorsprechen?

Christoph: Mit Seiters und Kohl zu reden, wäre für mich unreal. Wir müssen das erst noch mal sondieren, aber mir würde da eher Momper einfallen. Auch wenn er seine Abhängigkeiten in der Sache hat, glaube ich, dass er sich das anhört und die Aspekte überdenkt.

Interview: plu

aus: taz-Berlin Nr. 2988 vom 15.12.1989

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