Bürgerrechte sind kein Geschenk

Initiative für eine Helsinki-Gruppe in der DDR

Es war nach Beginn der Stationierung amerikanischer Pershing 2 und Cruise Missiles in Westeuropa, als sich westliche Politiker in der DDR die Klinke in die Hand gaben. Denn während andere eine neue Eiszeit einleiten wollten, war es unser Land, das in dieser komplizierten internationalen Situation die Maxime vertrat: es gibt keine Alternative zum politischen Dialog, zur friedlichen Koexistenz. Für die DDR wurden völlig neue Wirkungsmöglichkeiten auf dem Feld der internationalen Politik erschlossen.

Große Aufmerksamkeit fanden auch die zwischen der SED und der SPD ausgehandelten Initiativen für eine chemiewaffenfreie Zone in Europa, für einen atomwaffenfreien Korridor in Mitteleuropa und eine Zone des Vertrauens und der Sicherheit in Zentraleuropa. In vieler Hinsicht wurden wichtige Vorarbeiten geleistet. So wurden beispielsweise in Kontrollfragen erstmalig Prinzipien vereinbart, die inzwischen fester Bestandteil aller Abrüstungsverhandlungen sind.

Zum ersten Mal deutlich wurde der Widerspruch zwischen Innen- und Außenpolitik nach Verabschiedung des von der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim Zentralkomitee der SED und der Grundwertekommission beim Parteivorstand der SPD ausgearbeiteten Dialogpapiers. Was die SED und die DDR im Verkehr zwischen den Staaten akzeptierten, den vorurteilslosen und gleichberechtigten Dialog, das verweigerten sie den eigenen Bürgern. Notgedrungen entstanden daraus innere Spannungen, litten die äußere Glaubwürdigkeit der DDR und der SED.

Noch deutlicher wurde der Widerspruch zwischen Innen- und Außenpolitik nach Unterzeichnung des Abschließenden Dokuments der Wiener KSZE-Folgekonferenz im Januar dieses Jahres. Gerade auf dem Gebiet der Menschenrechte und Bürgerfreiheiten sowie im humanitären Bereich übernahm die DDR eine Vielzahl neuer internationaler Verpflichtungen. Doch nur halbherzig wurde das Problem der Reisen und Ausreisen durch eine höchst umstrittene und gleich wieder geänderte und trotzdem noch immer unbefriedigende Verordnung in Angriff genommen. Andere Verpflichtungen wurden völlig ignoriert. Und wer im Ausland darauf aufmerksam machte, dem wurde entgegnet, er möge bitte seine Einmischungsversuche unterlassen.

Aus dem begehrten Gesprächspartner wurde ein Außenseiter. Dies umso mehr, als im Sommer und Herbst dieses Jahres der Eindruck entstand, entstehen musste, dass der DDR ihre Bürger in Scharen davonlaufen.

Die Missachtung internationaler Verpflichtungen hat der Glaubwürdigkeit der DDR schweren Schaden zugefügt, ihren außenpolitischen Handlungsspielraum stark eingeschränkt. Auf der Pariser Konferenz über die menschliche Dimension der KSZE im Juni dieses Jahres wurde unser Land von nicht wenigen Teilnehmern auf eine Stufe mit Rumänien (zur Zeit Ceausescus) gestellt.

Um den unhaltbaren Zuständen im Innern und der außenpolitischen Isolierung entgegenzutreten, bildete sich Ende August dieses Jahres eine Initiativgruppe für eine Helsinki-Vereinigung auch in der DDR, zumal der Tätigkeit solcher Gruppen im Wiener Dokument ausdrücklich große Bedeutung bei der Förderung des KSZE-Prozesses beigemessen wird. Die damalige Regierung jedoch entschied sich für Hinhaltemanöver. Erst am 1. Dezember wurde vom Innenministerium die Anmeldung zur beabsichtigten Gründung einer "Vereinigung zur Förderung und Beobachtung des KSZE-Prozesses" - so die offizielle Bezeichnung entsprechend dem Wiener KSZE-Dokument - bestätigt.

In einem inzwischen verbreiteten Aufruf der Initiativgruppe für eine Helsinki-Vereinbarung werden folgende Ziele genannt:

Mitglied der Helsinki-Vereinigung kann jeder Bürger der DDR werden, der sich zur Verfassung des Landes bekennt, was nicht ausschließt, dass er auf gesetzlichem Wege Veränderungen einzelner ihrer Bestrebungen erstrebt. Zur Mitarbeit aufgerufen ist jeder, der sich der humanistischen Tradition des europäischen Menschenrechtsgedankens verpflichtet fühlt und dem daran gelegen ist, dass dieses Land in den Fragen der politischen und rechtlichen Kultur nicht allein den internationalen Standard erreicht, sondern ihn in Zukunft auch mitbestimmt.

Alle Einzelheiten der Programmatik, der Organisation und Arbeitsweise sollen - möglichst noch im Januar nächsten Jahres - in demokratischer Diskussion festgelegt werden, um dann die für eine Zulassung notwendigen Papiere auszuarbeiten. Vorläufige Kontaktadresse für interessierte Mitarbeiter ist: Hartmut K(...), (...) Straße 12, Berlin, 1143, Telefon: (Berlin) (...).

aus: Neue Zeit, 45. Jahrgang, Ausgabe 303, 27.12.1989, Tageszeitung der Christlich-Demokratischen Union Deutschlands

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