Wir dokumentieren auszugsweise einen Offenen Brief von Stephan Krawczyk und Freya Klier

Mit großer Betroffenheit haben wir Ihren Artikel "Friedenssicherung und ideologischer Streit" im ND vom 28.10.87 aufgenommen - wir sehen in ihm eine klare Absage an den von vielen Menschen dieses Landes erhofften Prozess sozialistischer Umgestaltung. (...) Die Politik der DDR wurde in fast vier Jahrzehnten derartig stark von der Entwicklung der Sowjetunion geprägt, dass wir hier durchaus unter ganz ähnlichen Konflikten leiden wie die Menschen dort:

Hier wie dort herrscht eine große Kluft zwischen den Regierenden und einem Großteil der Bevölkerung, der an allen politischen Entscheidungen keinerlei Anteil hat;

hier wie dort erzeugt die Allgegenwart der Staatsmacht eine gesellschaftliche Apathie, die ihren Ausdruck in politischem Desinteresse der Werktätigen findet;

hier wie dort äußern häufig gerade junge Menschen das Gefühl, zukunftslos zu sein.

Gorbatschows Kurs der Offenheit und Umgestaltung ist der heute einzig mögliche Weg, diese Probleme zu lösen (...). (Wir) haben nun als Künstler seit mehr als zwei Jahren Berufsverbot - eine Zeit, die uns existentiell (...) geprägt hat. (...) (Wir) möchten - an einer Stelle, die uns besonders am Herzen liegt - mit einem eigenen Projekt neues sozialistisches Denken und Handeln in Gang bringen:

Wir beantragen eine der leerstehenden Fabrikhallen in Berlin Mitte oder Prenzlauer Berg, um unsere Vorstellungen von sozialistischer Kunst in eigener Verantwortung verwirklichen zu können. (...) Wir garantieren mit unserer Arbeit die Einhaltung jener Kriterien, für die Bert Brecht 1951 in einem Offenen Brief an die deutschen Künstler und Schriftsteller eintrat:

1. Völlige Freiheit des Buches, mit einer Einschränkung.

2. Völlige Freiheit des Theaters, mit einer Einschränkung.

3. Völlige Freiheit der Bilden den Kunst, mit einer Einschränkung.

4. Völlige Freiheit der Musik, mit einer Einschränkung.

5. Völlige Freiheit des Films, mit einer Einschränkung. Die Einschränkung: Keine Freiheit für Schriften und Kunstwerke, welche den Krieg verherrlichen oder als unvermeidbar hinstellen, und für solche, welche den Völkerhass fördern.

Gern würden auch wir die Wirklichkeit unseres Landes freundlicher beschreiben, aber sie ist es nicht.

Hochachtungsvoll
Freya Klier / Stephan Krawczyk

aus taz, 11.11.87


Der Offene Brief an Kurt Hager entstand Anfang November 1987. Nach Angaben Freya Kliers wurde der Offene Brief nach zwei Richtungen verfasst. Eine sollte auf die Menschen in der DDR einwirken, sie ermutigen ihre Belange selbst in die Hand zu nehmen. Die zweite Richtung zielte auf die Parteien in der BRD und hier vor allem auf die SPD.

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