Ohne sie läuft nichts

Der Schrei nach einig deutschem Vaterland und der damit verbundenen Einführung der DM wird täglich lauter. Das hat nicht nur objektive Gründe, sondern ist Bestandteil gezielter Wahlkampfmethodik. Auch die sich der gesamtdeutschen Mittelstandseuphorie ergebenden Menschen schließen sich mehr oder weniger bedingungslos diesem Schrei an. Verständlich, hoffen doch die westlichen klein- und mittelständischen Unternehmer, endlich dem harten Konkurrenzfeld, dem Druck der Monopole und Steuerlasten zu entfliehen. 66 Prozent neugegründeter Kleinbetriebe scheitern bereits im ersten Jahr ihres Bestehens. In der DDR, wiederum denkt man, mit viel, bisher so sträflich unterdrücktem Tatendrang und Ideenreichtum einen sicheren Übergang und Anschluss an das neue marktwirtschaftliche System zu finden. So weit, so gut. Die Rechnung wurde jedoch ohne die Großen, die Giganten unserer wirtschaftlichen Fehlentwicklung, gemacht. Die meisten der zahlreichen in zentralbürokratische Einheitsstrukturen gepressten Kombinate stecken seit eh und je in den roten Zahlen. Zudem werden ihre Produkte und Leistungen subventioniert. Niemand kann und will die enormen finanziellen Beträge aufwenden, um sie nach marktwirtschaftlichen Prinzipien und Richtlinien sowie in ökologisch erträglich arbeitende Betriebe umzuwandeln. Was wird also passieren? Mit dem berühmten Tag X setzt auf Schlag eine betriebliche Konkurswelle und damit Massenarbeitslosigkeit ein. Allein im VE Kombinat Seeverkehr und Hafenwirtschaft arbeiten z. Z. über 24 500 Werktätige, in den beiden Rostocker Werften sind in etwa 13 000 Menschen beschäftigt. Und nicht jeder Betroffene kann eine Gaststätte oder einen Handwerksbetrieb aufmachen. Die enormen Aufwendungen für die finanzielle Absicherung der Massenarbeitslosigkeit. würden eine progressive ökonomische Entwicklung unterdrücken, da die Ausgaben zu Lasten der volkswirtschaftlichen Akkumulations- und Innovationskraft gehen. Und in diesem Meer von Massenarbeitslosigkeit, zunehmender sozialer Differenzierung, steigender Kriminalität sowie weiterer Auswanderungen und insbesondere der damit unmittelbar gekoppelten sinkenden Kaufkraft kann sich auch kein gesundes mittelständisches Unternehmertum herausbilden. Auf keinen Fall gelingt es, von heute auf morgen eine leistungsstarke Großindustrie aufzubauen - nicht in zwei Jahren, nicht in zehn Jahren. In der BRD werden jedes Jahr nur sehr wenige Großbetriebe neu errichtet, und um diese schlagen sich die zehn Bundesländer. Dabei ist auch das in der BRD real existierende Süd-Nord-Leistungsgefälle nicht zu überwinden. Wer da also denkt, mit der Einführung der DM verwandle sich Leipzig in ein zweites München und Rostock zumindestens in ein zweites Hamburg, der irrt sicher und gewaltig. Und deshalb sollten die sich zur Wahl stellenden Parteien und Organisationen, und besonders jene, die lauthals den raschen und blühenden Wohlstand für alle versprechen, klar und eindeutig diesem Problem stellen und für die Großbetriebe Sanierungskonzepte, langfristige Strategien und Umstrukturierungsmodelle sowie neue Projekte anbieten und fordern anstatt sich einfach der ansonsten garantiert einsetzenden Massenarbeitslosigkeit und den damit verbundenen unproduktiv verschwendeten und durch keine Versicherung abgedeckten finanziellen Ausgaben zu ergeben. Zur Erhaltung, Modernisierung und Neubau einer eigenständigen Großproduktion im vernünftigen Rahmen muss die BRD gezwungen werden, da sie aufgrund ihrer chronischen Überproduktion ohne weiteres in der Lage ist, den Markt der DDR mit zu versorgen. Können wir den durch die Schließung zahlreicher Großbetriebe vorprogrammierten Kollaps nicht verhindern, werden wir nie etwas anderes als eine deutsche Kolonie sein.

Constanze S(...),
Vereinigte Linke

aus: plattFORM Freies Wochenblatt für mündige Bürger, Nr. 9, 06.03.1990, auf der Rostocker "Plattform" stehen: Neues Forum, SPD, DA, Grüne Partei, Demokratie Jetzt und Vereinigte Linke