Thesen zu Gerechtigkeit, Partizipation und Überlebensfähigkeit

Während des Arbeitstreffens der Initiative Vereinigte Linke am 25./26.11.89 hielt sich die Arbeitsgruppe in der Diskussion sehr eng an den vorliegenden Text. Besonderes Gewicht wurde auf die Wertediskussion gelegt. Erste konkrete Gedanken zum Thema Wirtschaft in Richtung Graswurzelbewegung, Kooperation mit selbstverwalteten Betrieben in Westeuropa sowie der Errichtung eines zweiten Weltmarktes zwischen Zweidrittel-Welt-Ländern und osteuropäischen Assoziationen wurden angedacht und werden ebenfalls weiterbesprochen.

1.
Es sieht so aus, als hätte der Kapitalismus über den Sozialismus gesiegt. Von einer Mehrheit wird der freie Markt als innovativste, kreativste, freieste und effektivste Form des Wirtschaftens und damit auch des Lebens angesehen. Nun ist das Wort Sozialismus reichlich verbraucht und denunziert durch realexistierende Mangelwirtschaft. Stellen wir klar, was wir damit meinen in einer allgemeinsten Form:

- gesellschaftliches Eigentum an Produktionsmitteln als vorherrschende und perspektivische Grundlage sozialistischer Vergesellschaftung,

- Selbstbestimmung der Produzenten als Basis für Vergesellschaftung der gesamten ökonomischen Tätigkeit,

- soziale Sicherheit und Gerechtigkeit für alle Gesellschaftsmitglieder,

- politische Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, wahre Volksbildung, Verwirklichung der ungeteilten Menschenrechte und freie Entfaltung der Individualität jedes Gesellschaftsmitglieds,

- ökologischer Umbau der Industriegesellschaft,

- alle zu erkämpfenden Rechte gelten im weltweiten Kontext.

2.
Der Annahme einer Eigengesetzlichkeit des kapitalistischen Marktes wird nun auch von vielen Ökonomen hierzulande in Gesprächen und ersten Entwürfen als naturnotwendig oder zeitlos rational beigepflichtet, weil die Probe aufs Exempel Staatsplanwirtschaft in eine Sackgasse geraten ist. Dabei wird die Wirklichkeit mechanistisch verfälscht, nämlich die Tatsache, dass der Kapitalismus zunehmend die Grundbedürfnisse der konkreten Menschen vernachlässigt ebenso wie die Bewahrung der Erde.

"Im Gegensatz zu allen anderen Herrschaftsformen ist die ökonomische Kapitalsherrschaft ihres 'unpersönlichen' Charakters halber nicht reglementierbar." Das sagt der leidenschaftliche Befürworter des System, Max Weber.

Das heißt aber nichts anderes, als dass das kapitalistische System nicht gut oder böse, nicht halb oder viertel zu haben ist. Um den Preis seines eigenen Untergangs muss er die Mehrzahl der Menschen ausbeuten, muss er Gewinn über Gemeinwohl stellen. Das sagt auch der leidenschaftliche Gegner des Systems, Karl Marx.

3.
Ein zentraler Punkt bei allen ökonomischen Überlegungen ist die Frage des Bedürfnisses des Menschen. Aus der Perspektive unserer ewigen Mangelwirtschaft sind wir nur zu leicht geneigt, dem freien Markt diese Fähigkeit zuzusprechen, vor allem mit dem Konsumparadies Bundesrepublik in unmittelbarer Nachbarschaft. Wenn wir aber genauer hinsehen, kommt nur der Bedarf im Sinn der Grundlage für den Absatz der Betriebe in den Blick. Bedarf und Bedürfnis sind nur dem Äußeren nach Brüder.

Unter den Ökonomen hat schon Kapp 1936 die konstitutionellen Schwächen des Marktes in diesem Zusammenhang analysiert:

"Erstens kann der Markt nicht auf Bedürfnisse, sondern nur auf Kaufkraft reagieren, d.h. nur die Bedürfnisse, die sich mittels einer effektiven Nachfrage manifestieren können, werden gedeckt. Zweitens verzerren oligopolitische und monopolistische Märkte die relativen Knappheiten, was die Frage nach der Konsumentensouveränität aufwirft. Drittens ist der Marktmechanismus nicht in der Lage, der Ressourcenallokation über verschiedene Generationen hin Rechnung zu tragen... Viertens vernachlässigt der Marktmechanismus das Problem der Sozialkosten..."

Daraus folgen u.a. die Befriedigung der kaufkräftigen individuellen vor den gemeinschaftlich-gesellschaftlichen Bedürfnissen bis hin zur Armut, vor allem aber zur Vernachlässigung der Lebensbedürfnisse der Armen. Wenn man dieses Grundprinzip in den weltweiten Zusammenhang stellt und vor den Hintergrund, dass jährlich 30 bis 40 Millionen Menschen an den Folgen von Unterernährung sterben, dann ergibt sich:

"Bei mangelnder Kaufkraft breiter Bevölkerungsschichten zwingt der Marktmechanismus zu einer Umwandlung von Grundnahrungsmitteln in Güter des gehobenen Bedarfs." (Steppacher)

Nur so ist die relative Stabilität und das Überangebot an Konsumgütern in einigen wenigen Zentren der freien Marktwirtschaft erklärbar, nämlich im Kontext der Armut von nahezu zwei Dritteln der Welt. Dass dies auch enorme Folgen für die ökologischen Zusammenhänge dieser Erde hat, sei hier nur mit dem Hinweis auf die Abholzung des tropischen Regenwaldes und die damit zu erwartenden Klimaveränderungen auch bei uns erwähnt. Auch der Frieden wird trotz aller Abrüstungsverhandlungen nicht sicherer, solange eine so grundlegende Ungerechtigkeit besteht.

Und die soziale Marktwirtschaft?

Die Anpassungsversuche dieses Modells waren angesichts von realen Krisen immer rein auf Erhaltung der Marktkonformität des Wirtschaftsgeschehens ausgerichtet. Der Staat erhielt die Aufgabe, Krisenphänomene abzufangen, so z.B. - jedenfalls in den Zentrumsländem - die sozialen Kosten des Marktgeschehens zu dämpfen ("Privatisierung der Gewinne, Verstaatlichung der sozialen Kosten"). So wurde den Zentrumsländern einige Jahrzehnte Wohlfahrtskapitalismus beschert. Aber diese Zeit geht nun vorbei - auch in der Bundesrepublik zu beobachten - und wird zunehmend von der Phase des "Kapitalismus der Nationalen Sicherheit" abgelöst, in der die Sozialleistungen zugunsten des Aufbaus von Sicherheitssystemen abgebaut werden, um die Vorrechte der am Marktgeschehen Profitierenden mit Gewalt zu verteidigen.

Wir glauben angedeutet zu haben, warum die freie, oder auch soziale, Marktwirtschaft für uns keine tatsächliche Alternative darstellt. Das Hauptproblem scheint aber darin zu bestehen, dass derzeit kein anderes Modell im Angebot ist. Es wird also notwendig sein, selbständig Perspektiven zu formulieren, auch auf die Gefahr hin, dass sie weder sofort mehrheitsfähig sein werden noch dass sie bis in Einzelheiten zu Ende gedacht sind.

4.
Im ökonomischen Bereich gibt es wichtige Denkansätze, die sich vom Gegensatz freie Marktwirtschaft und Staatsplanwirtschaft bereits entfernt haben. Dazu gehören die institutionelle Ökonomie und die Dependenztheorie ebenso wie der auf marxistischer Grundlage beruhende Ansatz von Bahro in der "Alternative". Diese Arbeit wurde unserer Meinung nach zu Unrecht so früh beiseitegelegt, denn sie hat immerhin den Vorteil, unmittelbar in der DDR-Wirklichkeit entstanden zu sein.

Gemeinsam sind diesen Ansätzen folgende neue Grundmodelle:

1. Sie beruhen auf einem Menschenbild, das den wirtschaftenden Menschen im Zusammenhang seiner Kultur und der ihm umgebenden Natur sieht.

2. Sie geschehen nicht von einem abstrakten Modell, sondern von Problemen unserer Zeit her (Abhängigkeit, Nichtbefriedigung der Grundbedürfnisse der Mehrheit, Gefährdung lebenserhaltener ökologischer Kreisläufe). Es werden Sozial- und Umweltindikatoren entwickelt.

3. Verteilungsprobleme werden aus der Perspektive der jetzigen Opfer mit bewusster Wertentscheidung angegangen. Die Wertprämissen sind: "Befriedigung existentieller Grundbedürfnisse" (Gerechtigkeit), "Self-reliance" (Partizipation) und "Nachhaltigkeit" (Überlebensfähigkeit).

4. Fundamentale institutionelle Reformen müssen nach problem- statt marktorientierten Kriterien stattfinden.

5. Im Gegensatz zu allen geschlossenen Systemen, die eine Trennung von ökonomischen und nichtökonomischen Faktoren vornehmen, sind diese Ansätze ein offenes System hinsichtlich

a) der sozialen Umwelt,
b) der natürlichen Umwelt,
c) der internationalen Wirtschaftsbeziehungen.

Es gilt also, die Einheit von Gerechtigkeit, Partizipation und Überlebensfähigkeit herauszuarbeiten, um zu einem wirklich neuen, nämlich ganzheitlichen, Denken zu gelangen.

Noch einmal: Ausgegangen wird von in der Realität identifizierten Problemen (Gefährdung der menschlichen Existenzbedingungen durch Unterentwicklung, Umweltzerstörung etc.) und identifiziert werden die ökonomischen, sozialen und ökologischen Faktoren, die im Verursachersystem des untersuchten Problem relevant sind.

Es besteht zirkuläre Interdependenz zwischen allen Grundelementen, die die Systembeziehungen definieren. Die Beziehungen sind asymmetrisch, weil Asymmetrie herrscht in der Machtausstattung der verschiedenen Bevölkerungsschichten, in den Entscheidungssystemen und der Anpassungsfähigkeit verschiedener Grundelemente im Sozialsystem.

Es wird also nicht zu fragen sein: Wie können wir unsere Wirtschaft effektiver gestalten, welche Maßnahmen sind dafür notwendig? Sondern es wird heißen: Welche Ursachen gibt es für Disproportionalität, welche Ursachen hat die Versorgungskrise, aber auch, woher kommt die einseitige Konsumorientiertheit vieler Jugendlicher, welche Werte werden durch Schule und Gesellschaft vermittelt, wieviel sind uns unsere Alten und Behinderten wert, warm befindet sich unser Grundwasser in einem verheerenden Zustand und wie kämen wir Wirtschaft weltweit gerecht gestalten, damit uns zum Beispiel eine Klimakatastrophe erspart bleibt?

Die Antworten darauf werden ökonomische Kriterien sein, und nicht ethische oder moralische Zugaben. Wir können unsere wirklichen Produktkosten nicht auf nachfolgende Generationen und in andere Breitengrade abwälzen, sondern wir müssen hier und heute richtig rechnen.

Wenn wir uns den Begriff Gerechtigkeit ansehen, dann bemerken wir beim Lesen unserer Presse, aus den Diskussionsbeiträgen und Antworten unserer Politiker, dass sie zwar sehr wohl diesen Begriff und auch den Begriff Reformen im Munde führen, dass sie aber eine Gerechtigkeit der Reformen meinen, die vom Unterdrücker festgelegt und quasi als Zugeständnis angeboten wird. Das ist nicht die radikale Gerechtigkeit, die von unten kommt. Reformen, die von oben kommen, sind niemals befriedigend. Sie bewirken selten mehr, als dass die Unterdrückung noch wirksamer und noch akzeptabler wird.

Wahre Gerechtigkeit, Gottes Gerechtigkeit, fordert eine radikale Veränderung der Strukturen und diese kann nur von den Unterdrückten selbst kommen.

6.
Der Mangel an vernünftiger und wirksamer Partizipation des Volkes ist dabei sowohl das Ergebnis als auch die Ursache unserer heutigen Ungerechtigkeit. Authentische Partizipation zielt auf die Macht des Volkes ab, eigenständig zu handeln, um sich von allen Formen der Verknechtung und Unterdrückung zu befreien und eine Gemeinschaft der Gerechtigkeit und der Menschenwürde, der Eigenständigkeit und Identität, der Freiheit und des Mitgefühls, der Freundschaft und des Feierns zu schaffen. Dies alles vollzieht sich in einem dynamischen und konstruktiv-kritischen Prozess, für den Toleranz und die Möglichkeit, sich in angstfreier Offenheit zu äußern und mit seiner Identität und seinen Gaben einbringen zu können, kennzeichnend sind. Es gibt verschiedene Formen der Partizipation, wobei politische, kulturelle, soziale und wirtschaftliche Teile eines Ganzen sind.

Die politische Partizipation bedeutet die Vergesellschaftung (Demokratisierung) des allgemeinen Erkenntnis- und Entscheidungsprozesses. Dazu gehört auch das Recht, zwischen Alternativentscheidungen zu wählen, Kontrolle der Gewählten, Abwählbarkeit, evtl. Rotationsprinzip, Durchschaubarkeit von Entscheidungen durch Information und Öffentlichkeit.

Die kulturelle Partizipation versucht, die menschlichen Lebensbedingungen im geistigen und schöpferischen Bereich zu verbessern.

Das heißt, die kulturellen Hintergründe der Menschen zu achten, volkseigene Kreativität anzuregen, das Recht auf die eigene Identität und die schöpferische Selbsterfüllung sowie das Recht auf eine anderslautende Meinung zu wahren und die Möglichkeit der Teilnahme am Leben der Gemeinschaft durch eine emanzipatorische Form der Bildung zu schaffen.

Die wirtschaftliche Partizipation ist die Grundlage für die Verwirklichung realer Gleichheit. Sie bedeutet die Umverteilung der Arbeit nach dem Prinzip, dass alle gleichen Anteil an den Tätigkeiten auf den verschiedenen Funktionsniveaus leisten und die soziale Gleichgeltung dadurch hergestellt wird, dass jeder Mensch als mehr geachtet wird und mehr darstellt als seine beschränkte Tätigkeit.

Das bedingt auch die Frage, wie produziert wird. Im Mittelpunkt wird der ökologische und soziale Aspekt der Produktion stehen müssen, und Bedürfnisbefriedigung statt Bedarfsdeckung. Der Begriff von Leistung und Effektivität sind von diesen Gesichtspunkten her zu hinterfragen und gegebenenfalls zu relativieren.

Die soziale Partizipation muss eine höhere Einschätzung kollektiver Werte gegenüber den individuellen durchsetzen. Die katastrophale Situation auf unserem Planeten lässt nur noch kollektives Handeln zu. Eliten sind von ihrem Verhältnis zur Führung, zu Macht, her grundsätzlich korrumpierbar. Solidarität muss als neuer Wert erkannt und durchgesetzt werden. An dieser Stelle ist wieder im besonderen Maße die Rolle der Volksbildung angefragt.

7.
Zum Begriff der Überlebensfähigkeit ist anzumerken, dass es im Angesicht der weltweiten Krisen im ökonomischen (Schuldenkrise), ökologischen (Treibhauseffekt, Wasserverseuchung sowie Chemie- und Atommüll), sozialen (Arbeitslosigkeit, Armut) und kulturellen (Verlust der Identität) Bereich, von den nach wie vor tobenden regionalen Kriegen ganz zu schweigen, keine kurzsichtigen Problemlösungen geben kann. Neben der Notwendigkeit, sofort Reformen in der DDR durchzuführen, müssen die bereits genannten Faktoren und Zusammenhänge, ihre Auswirkungen auf Umwelt, Soziales, auf die Länder der Zweidrittelwelt, ihr tatsächlicher emanzipatorischer Gehalt berücksichtigt und ihre Wirksamkeit für die Zukunft ins Kalkül gezogen werden. wer meint, dies seien Binsenweisheiten, dem seien die von den Regierenden angedachten Lösungsversuche in Richtung Leistung und Effektivität zum Nachdenken empfohlen. Nur wenn man sich das Ausmaß der globalen Gefährdungen als für die gesamte Menschheit lebensbedrohend bewusst macht, ist man in der Lage, dem Begriff der Überlebensfähigkeit seinen zentralen Platz bei den notwendigen Reformen einzuräumen.

8.
Es gilt also, dass es auf keinen Fall ausreicht, eine Wirtschaftsreform, die wieder nur Teilinteressen vertreten würde, in Gang zu bringen, sondern es geht um eine tiefgreifende Gesellschaftsreform.

Für die Verwirklichung realer Gleichheit in der DDR unter den Aspekten von Gerechtigkeit, Partizipation und Überlebensfähigkeit erscheinen uns folgende Ziele wichtig zu sein:

-  Eigenständigkeit der Betriebe und wirtschaftliche Rechnungsführung unter Einbeziehung der Faktoren Umwelt, Zweidrittelwelt (Gerechtigkeit) und Überlebensfähigkeit. Finanzieller Ausgleich unter Berücksichtigung der gesamtgesellschaftlichen Erfordernisse.

- Kollektive Kontrolle der Arbeitenden über den Produktionsprozess, Transparenz von Entscheidungsfindungen, Mitbestimmung durch unabhängige Gewerkschaften.

- Mitbestimmung durch unabhängige Verbraucherorganisationen.

- Abschaffung der Privilegien einzelner Personen und ganzer gesellschaftlicher Gruppen.

- Besondere Förderung von Genossenschaften und Kollektiven, die o.g. Aspekte in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellen und emanzipatorische Lebensformen verwirklichen vollen.

- Abschaffung von Subventionen, die zu Schlamperei und Vergeudung führen.

- Absolute Grundbedürfnisse der Menschen dagegen wie Wohnung und ökologisch zu akzeptierende Mobilität sind sinnvoll zu subventionieren.

- Besondere Förderung der Frau unter dem Aspekt der Einbeziehung von Männern in häusliche und kindererziehende Tätigkeit. Als Übergangslösung ist an eine Quotenregelung für leitende und politische Funktionen zu denken.

- Erhöhung der allgemeinen Renten, Abschaffung von überdurchschnittlich hohen Renten für Mitarbeiter des Staatsapparates etc.

- Ersetzung der Arbeitsnormen durch kollektiv erarbeitete und verantwortete Kriterien.

- Kürzung der Arbeitszeit, Zurückdrängung des Dreischichtsystem auf das unbedingt notwendige Niveau.

- Gesellschaftlich notwendige Arbeit auf einem untergeordneten Niveau ist anteilmäßig von allen zu leisten.

- Erreichung überschüssigen Bewusstseins kam in Zukunft die Disponibilität von Arbeitsplätzen und Funktionen umfassend ermöglichen.

- Abschaffung des Spezialistentums als soziale Existenzform.

- Sicherung individueller und kollektiver Freiheitsrechte entsprechend der UN-Menschenrechtscharta u.a. UNO-Deklarationen. Dazu gehören z.B. Rede- und Versammlungsfreiheit, Reisefreiheit und Demonstrationsrecht, das Recht auf Arbeit, Bildung und Wohnen.

- Rechtsstaatlichkeit, Abschaffung der unpräzisen politischen Paragraphen 212 bis 222, Einrichtung eines sozialen Wehrersatzdienstes, Verwaltungsgerichtsbarkeit, Asylrecht.

-  Freie und alternative Wahlmöglichkeiten, Verantwortlichkeit des Gewählten bis hin zur Mandatsentziehung durch die Wähler.

- Förderung von Bürgerinitiativen u.a. basisdemokratischen Formen der Meinungsbildung und der Durchsetzung von Gruppeninteressen.

- Kommunale Selbstverwaltung, Dezentralisation und Überschaubarkeit von Prozessen müssen im Mittelpunkt stehen.

- Umbau des Bildungswesens mit dem Ziel einer Erziehung zur Mündigkeit. Bildung und Erziehung sind dann erfolgreich, wenn sie die Selbstentwicklung und die Selbstbestimmung der Schüler fördern und zum Durchschauen gesellschaftlichen Kontextes führen sowie das subversive Potential zur Veränderung von Zuständen beitragen. Mit einem tatsächlichen Bildungszugang für alle bis zur universitären Stufe lässt sich das notwendige überschüssige Bewusstsein erreichen.

- Informationsfreiheit und Datenschutz.

- Kontrolle von Polizei und anderen Staatsorganen durch unabhängige Kontrollgruppen, zusammengesetzt aus unterschiedlichsten gesellschaftlichen Gruppierungen.

- Beibehaltung des Verbots jeder faschistischen oder neofaschistischen Vereinigung, des Verbots völkerverhetzender und kriegstreibender Publikationen. Konsequente Anwendung der entsprechenden Paragraphen. Beseitigung aller militaristischen und faschistoiden Formen gesellschaftlichen Selbstverständnisses, die dieses Gedankengut unter Jugendlichen fördern könnten (paramilitärische Vereinigungen wie GST, Kadavergehorsam, preußischer Tugendkatalog und Abwertung anderer Völker und Rassen im Alltag).

- Förderung von Kunst- und Kultur nach spezifischen Gesichtspunkten, nicht nach konformen Verhalten und Bejubelung der Herrschenden.

- Eigenständigkeit von Theater, Verlagen und anderen künstlerischen Medien.

- Soziale Absicherung der Kunst- und Kulturschaffenden, ohne dass Theaterensemble zu Altersheimen werden und Bücher in Nachauflagen für die Regale erscheinen.

- Förderung freier Tanz- und Theatergruppen.

- Abschaffung bürokratischer und ausbeuterischer Organisationen wie staatliche Künstleragentur und Amt für Urheberrechte, Selbstorganisation der Kunst- und Kulturschaffenden.

- Spezielle Möglichkeiten für junge und avantgardistische Autoren über Wettbewerbe und innovative kleine Verlage. Selbstverlag und Autorentheater als Stichworte.

- Für die Bildende Kunst gilt dies analog mit der Förderung privater oder genossenschaftlicher Verkaufsgalerien.

- Papierbereitstellung nach den Bedürfnissen der Leser und nach künstlerischen Kriterien für ein Buch, nicht nach parteilichen oder manipulativen Gesichtspunkten.

- Gründung einer Vielfalt von Kunst- und Kulturzeitschriften in Eigenverantwortung der Herausgeber.

- Multinationaler Vielfalt in allen Kunst- und Kulturbereichen ist der Vorrang vor künstlicher Nationalkultur zu geben. Wenn authentische volkskünstlerische Bedürfnisse vorhanden sind, sind diese zu befördern. Dies gilt analog für historische Gesichtspunkte.

- Sport ist ebenso in Breite und Vielfalt zu entwickeln, statt wie bisher leistungsorientierte Förderung Hochbegabter um jeden Preis zu forcieren. Sport soll Spaß machen und nicht der Kompensation nationalistischer Gefühle dienen.

- Besonderes Augenmerk ist auf einen sofortigen Stopp unseres kulturellen Ausverkaufs zu richten. Dies betrifft die Tatsache, dass es ganze Instrumentgruppen (z.B. Violinen) und das entsprechende Zubehör trotz eigener Produktion gar nicht zu kaufen gibt, andere Instrumente, Noten und Anlagen nur mangelhaft zu erhalten sind. Das betrifft das Kopfsteinpflaster, das in den Westen verkauft wird, ebenso wie die Gaslaternen, die Klaviere und Antiquitäten, mit denen uns unersetzliche Kulturgüter verloren gehen. Das betrifft den Zerfall denkmalgeschützter Häuser und Anlagen.

- Auch für die musische Betätigung, insbesondere von Kindern, gilt das bereits zum Sport Gesagte.

- Hochbegabtenförderung sollte selbstverständlich auf allen Gebieten sein, aber sie betrifft immer nur sehr wenige, und gehört deshalb nicht in den Versuch einer gesamtgesellschaftlichen Reformüberlegung! Mit der Anhebung des allgemeinen Bildungs- und Bewusstseinsniveaus soll es zu keiner Nivellierung der individuellen Fähigkeiten kommen, sondern zu einer Vermehrung der emanzipatorischen Interessen gegenüber den kompensatorischen, die heute noch das Blickfeld Vieler einengen.

9.
"Meint ihr, dass ich gekommen bin, Frieden zu bringen auf Erden? Ich sage: Nein, sondern Zwietracht." (Luk 12, 51)

Auf der Grundlage ihres Zeugnisses, das im Neuen Testament und Leben der Kirche enthalten ist, ist es ein Wesensmerkmal der Kirche apostolisch, also in die Welt gesandt zu sein. Das bedeutet auch, dass sie Verantwortung trägt für die Bewegung, die in diesem Land entstanden ist, und sich von ihrem Auftrag her in der Verantwortung weiß auch für die Richtung, in die diese Reformen gehen werden. Ihr Platz ist auf der Seite der Armen, und das bedeutet im weltweiten Zusammenhang, dass sie sich für die Hungernden und Unterentwickelten in der Zweidrittelwelt zum Anwalt machen muss, nicht zum Almosengeber. Wir haben versucht, ein wenig von der politischen Dimension dieses Gedankens weiterzugeben. Weitergehend Interessierten seien die zur IWF-Kampagne 1988 entstandenen Papiere, z.B. "Die Schuldenkrise", empfohlen.

Im Zusammenhang mit der Situation hier im Lande heißt ja arm sein nichts anderes als ohnmächtig sein. Natürlich gehört die Kirche auch hier auf die Seite der Armen, d.h. auch auf die Seite der Basisgemeinden, der Nachfolgegruppen, der Menschen, die sich für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung einsetzen und derjenigen, die zu Hunderttausenden auf die Straße gehen, um ihrer Ohnmacht ein Ende zu setzen.

Sie muss beiden Aspekten gerecht werden. Das heißt, sie kann nicht eine Richtung der Entwicklung unterstützen, die weiterhin Ungerechtigkeit festschreibt. Es gibt deutliche Worte, mutiges Handeln von Bischöfen, Pfarrern, Gemeinden. Was muss Kirche tun?

1. Sie muss ihre gewachsenen organisatorischen Strukturen zur Verfügung stellen, und die Teilhabe an gesellschaftlicher Verantwortung durch die Menschen in allen Gremien und in allen gesellschaftlichen Belangen einklagen. Noch gibt es kaum öffentliche Räume für Andersdenkende. Sie muss offen sein und bleiben für Menschen und Gruppen, die in diesem Sinne partizipatorisch handeln vollen.

2. Wenn es notwendig ist, muss sie Proteste und Massenaktionen, gewaltfreien Widerstand unterstützen und notfalls initiieren. Das setzt voraus, dass ein hohes Maß an Verweigerung der Partizipation des Volkes durch die Machthabenden vorhanden ist, macht also gründliche politische Analysen zu jeden Zeitpunkt notwendig.

3. Sie muss die Suche nach der Wahrheit unterstützen durch Veröffentlichungen und Erklärungen, durch Aufklärung ungerechten Handelns. Eine z.B. größere Unterstützung kirchlicher Informationsblätter wie "kontext" und "Umweltblätter" ist denkbar.

4. Sie muss Raum schaffen, um die Partizipation durchzusetzen, durch Kinderhorte, Erwachsenenbildung, informelle Bildung usw. Dabei wird es notwendig sein, die Ausbildung der eigenen Mitarbeiter in diesem Zusammenhang zu verändern, und sie der gesellschaftlichen Realität anzupassen.

5. Das wird nicht ohne revolutionäre Veränderungen der gesamten Struktur und Leitungshierarchie im kirchlichen Bereich möglich sein. Damit ihr Zeugnis glaubwürdiger und wirksamer wird, muss der Elitebildung in der Führung entgegengetreten werden.
Selbstverfasste Gemeindestrukturen, von unten nach oben gegliedert, entsprechen diesem Zeugnis viel eher als ein an weltlicher Macht orientierter Führungsstil.

6. Kirchliche Handlungen müssen neue Formen finden, um den realen Hoffnungen der Menschen dieser Welt, ihrer Sprache und ihrer Kultur gerecht zu werden.

10.
Der Mensch besteht aus einer Summe von Bedürfnissen, Konsum ist nur ein Teil des Ganzen. Diese Tatsache muss bei allen neuen ökonomischen Überlegungen im Vordergrund stehen. Der Mensch, der einer freien selbstbestimmten Arbeit nachgeht, der sich noch notwendige unfreie und untergeordnete Tätigkeit gerecht mit allen teilt, der teilnimmt an den gesellschaftlichen Entscheidung und Zugang zu allen Möglichkeiten der Information und Bildung hat, wird ein sehr viel geringeres kompensatorisches Interesse haben und seine Vielfalt in einem stärkeren Maße ausleben als dies heute der Fall ist. Auch unsere eigenen menschlichen Deformationen sind ein ökonomischer Faktor, der endlich öffentlich diskutiert werden muss.

Von hier aus müssen die Analyse der zu erwartenden Reformkonzeptionen durchgeführt, Kritik angesetzt und eigene Konzeptionen erarbeitet werden.

(Bei der Erarbeitung unserer Überlegungen benutzten wir ökumenische Papiere des Weltkirchenrates, Arbeiten von Ulrich Duchrow und Rudolf Bahro)

aus: 1. DDR - weites Arbeitstreffen der Initiative Vereinigte Linke 25./26. November 1989, Konferenz Reader, Herausgeber: Initiative Vereinigte Linke Berlin

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