Nachlese zur Wahl am 18. März

Nun freie Lohnarbeiter mit Ferien auf den Malediven

Gewonnen haben diese Wahl die Herren von Rhein und Isar, die die DDR zu ihrem politischen Schlachtfeld machten, sowie die hinter ihnen stehenden Großbanken und Großunternehmen, die deren Wahlkampf finanzierten: Vor allem letztere haben gewonnen . . . einen Markt zum Investieren und zum Absatz ihrer Waren.

Eine Mehrheit der Wähler, die letzten Jahrzehnte von Honecker und Mielke eingemauert und wie Heloten gehalten, zog ein Dasein als freie Lohnarbeiter vor. Manche träumen auch vom freien Unternehmerdasein und von Ferien auf den Malediven. Sie haben in den vergangenen Jahrzehnten in der DDR immer weniger ihre Heimat gesehen, sie sind in der DDR um viele ihrer Hoffnungen betrogen worden, sie geben die DDR leichten Herzens auf.

Nahezu alle in unserem Lande haben sich in den letzten Jahrzehnten in den Westmedien informiert, hörten und sahen nur dort, was auch ihren eigenen Erfahrungen entsprach. Darum finden es viele auch als das Selbstverständlichste der Welt, dass sich Vertreter der "freien Welt" massiv in unseren Wahlkampf mengten. Und hatten nicht die "Dissidenten" (oder wie sie auch genannt wurden) bei jeder Gelegenheit die Westmedien genutzt und umgekehrt? Hatten sie nicht, selbst als schon klar war, dass das Heft des Handelns an sie übergegangen war, sich noch an unterschiedslos alle Parteien der Bundesrepublik gewandt?! Als sie dann am Runden Tisch saßen und als der Wahlkampf lief, da ahnten, viele, von ihnen, dass die erbetene "Hilfe" sie selbst erdrücken würde.

Verloren haben diese Wahl jene, die unter großen persönlichen Opfern für die Erneuerung in unserem Lande eintraten. Verloren haben diese Wahl die Bürgerbewegungen, die eine Alternative zur bürokratischen Diktatur des "real existierenden Sozialismus" und zur unsozialen Gesellschaft des real existierenden Kapitalismus suchten.

Verloren haben diese Wahl jene, die sich am 7. und 8. Oktober zusammenprügeln ließen und die am 4. November und während der ersten Leipziger Montagsdemonstrationen und anderenorts im Spätherbst unüberhörbar ihre Stimme erhoben. Sie alle finden sich nun in der Rolle des Zauberlehrlings, die Geister, die sie riefen, die werden sie nicht los. Sie hatten vergessen, oder zu spät erkannt, worauf Stefan Heym schon im September in einer Sendung der ARD hingewiesen hatte, dass es westlich unserer Grenzen Kräfte gibt, denen nicht so sehr an unserem Wohlstand und unserer Freiheit gelegen ist, sondern an der Ausdehnung ihrer Herrschaft über ganz Deutschland - und das möglichst rasch und in den Grenzen von 1937.

Dem verspäteten Erwachen der Vertreter der Bürgerbewegungen am Runden Tisch wird das böse Erwachen vieler Wähler folgen, die sich für den raschen Anschluss an die Bundesrepublik und ihre kapitalistische Marktwirtschaft ohne Wenn und Aber entschieden haben. Wir hatten vor den sozialen Folgen eines raschen Übergangs zur Marktwirtschaft gewarnt, und kapitalistische Marktwirtschaft hatten wir niemandem empfohlen. Bei uns sollte sich niemand beklagen, wir beklagen uns auch nicht, dass zu wenige auf uns hörten.

Die Menschen wählten mehrheitlich "nie wieder Sozialismus". Das ist das Resultat der Herrschaft von Honecker, Mittag und Mielke und derer, die an deren Seite Karriere machten. Sie haben den Menschen die einzige dauerhafte Überlebensalternative geraubt und dies ausgerechnet in einer Zeit, in der die Menschheit sie am bittersten braucht. Die moderne wissenschaftlich-technische Entwicklung, die Nukleartechnik und die moderne Chemie, die Gen- und Biotechnik, Elektronik und Kosmosforschung, durch sie erlangen die Menschen die Fähigkeit, das Leben menschlicher zu gestalten oder alles Leben zu zerstören.

Wissenschaft und Forschung sowie die modernen Produktionsmittel gehören deshalb nicht in die Verfügungsgewalt einzelner Personen oder Gruppierungen: sondern unter öffentliche Kontrolle. Und ausgerechnet in dieser, Zeit entscheiden sich Menschen mehrheitlich nicht für die Vergesellschaftung der Produktionsmittel, sondern für die Restauration des Kapitalismus.

Das weltweite Desaster des "real existierenden Sozialismus" eröffnet auch neue Chancen. Das Negativbeispiel eines vermeintlichen Sozialismus hat die linken Kräfte in den hoch industrialisierten Ländern jahrzehntelang in ihrer Entfaltung behindert. Es wird noch lange Zeit nachwirken, doch es wird überschattet werden von der Realität des Kapitalismus, der keines der Probleme dieser Welt lösen kann, aber alle Probleme dieser Welt verschärft. Die Fronten werden wieder klar und eindeutig. Nunmehr geht es um gesellschaftliche Umwälzungen dort, wo sie historisch und objektiv am notwendigsten sind, in den hoch industrialisierten kapitalistischen Ländern. Die sozialistische Bewegung wird aufgehen in eine breite Bewegung der Völker zur Sicherung des Überlebens der Menschheit.

Hans S(...),
Vereinigte Linke

aus: Neues Deutschland, Sozialistische Tageszeitung, 45. Jahrgang, Ausgabe 77, 31.03.1990, Zeitung der Partei des Demokratischen Sozialismus. Die Redaktion wurde 1956 und 1986 mit dem Karl-Marx-Orden und 1971 mit dem Vaterländischen Verdienstorden in Gold ausgezeichnet.

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