FRAUEN HABEN KEIN VATERLAND

Rede auf der Kundgebung im Berliner Lustgarten am 21.2.1990

Die demokratische Volksbewegung der DDR hat von September bis November in einer gewaltlosen aber konsequenten Weise die alten, monopolistischen Machtstrukturen unserer Gesellschaft, die die Menschen über Jahre bedrückt und Ihnen die Freiheit genommen hatte, weitgehend beseitigt. Diese Bewegung ist seitdem ins Stocken gekommen. Uns wird erzählt, dass auf der Straße mit den Füßen über die deutsche Einheit abgestimmt wurde. Aber ich frage Euch, befinden sich diejenigen, die diese gewaltlose Revolution eingeleitet haben, heute wirklich in der Minderheit, wie dies den Anschein hat? Werden wir überhaupt noch gefragt, ob, wann oder wie wir diese deutsche Einheit wollen?

Auf der politischen Bühne der neueren deutschen Restauration - denn nichts anderes ist es, was sich heute und hier abspielt - führen die alten und neuen Parteien inzwischen einen grandiosen historischen Schinken auf: die rührende Oper von der sozialen Marktwirtschaft und das Melodram von der deutschen Einheit. Indessen setzt sich draußen der Auszug eines Volkes aus seiner Geschichte fort - ein stiller aber um so folgenreicherer Massenexodus. Wusstet Ihr übrigens, dass von 4 Ausreisenden 3 Männer sind? Ich befürchte, dass wieder die Frauen als die Hinterbliebenen die neuen Trümmerfrauen des zusammengebrochenen Staatssozialismus sein dürfen.

Denn wie sieht es heute für uns aus? Im Herbst waren wir noch angetreten, um grundlegende Verbesserungen der Lage der Frauen einzufordern. Wir wollten eine bessere Bezahlung von Frauenberufen, wir wollten mehr freie Zeit für alle, wir wollten ein neues System der Kinderbetreuung, das unseren hohen Ansprüchen gerecht wird. Wir forderten nicht nur ein Mitspracherecht, sondern die paritätische Beteiligung von Frauen an allen Entscheidungen.

Sind diese Forderungen heute unaktuell? - Zweifellos sind sie aktueller denn je. Aber was diskutieren wir heute im Frauenverband? Wir sind damit beschäftigt, das Schlimmste zu verhindern, wir rennen den Ereignissen hinterher. Wir erfahren täglich von neuen Absichten der Regierenden, der Betriebe, der neuen Politiker: Streichungen der Subventionen, Mietunsicherheit, Arbeitslosigkeit, Schließung von Kindereinrichtungen usw. Sind das die Segnungen der Marktwirtschaft? Werden das unsere Aussichten in einem neuen deutschen Vaterland sein?

Keinem einzelnen Manne mehr persönlich untertan, ökonomisch unabhängig und so frei, jederzeit über den eigenen Körper zu verfügen, sind wir dennoch doppelt geknechtet, doppelt eingeschränkt in unserer Freiheit, uns selbst zu entfalten. Frauen sind diejenigen, welche von den bevorstehenden Veränderungen in der Arbeitsgesetzgebung, im Lohn-, Preis- und Subventionsgefüge am unmittelbarsten betroffen sein werden, denn die begrenzte Freiheit, die wir uns eroberten, ist stark gefährdet. Wir Frauen sind in dieser unserer Gesellschaft diejenigen, welche alles zu verlieren haben, unsere Gegenwart wie unsere Zukunft, unsere ökonomische Unabhängigkeit wie unser Recht auf Selbstbestimmung. Und unsere Freiheit war immer nur so groß wie unser Widerstand gegen die erzwungene Unterordnung unter männliche Dominanz. Es war die Freiheit, nach eigenem Willen und Ermessen zu leben - mit und ohne Kinder, mit und ohne Männer. Das macht die Frauen bei uns so stark: die Eigenständigkeit unserer Lebensweise und Kultur. Und wir müssen stark sein, weil es noch viel auszuhalten gibt: die von allen Parteien systematisch betriebene Ausgrenzung aus der Politik, die zunehmende männliche Aggressivität, die sich wie immer gegen die sozial Schwachen richtet, die doppelte und dreifache Belastung, die uns abgeforderte Mehrarbeit zur Kompensation einer nichtfunktionierenden Infrastruktur und den Mängeln in der Versorgung.

Wir Frauen haben kein Vaterland zu verlieren, weil wir nie eines hatten, das sich unserer anders denn zweckgerichtet bedient hätte. Und wir haben auch keines zu gewinnen, weil wir in diesem Vaterland gezwungen wären, unsere einmal gewonnene individuelle Freiheit, anders zu sein, anders zu denken und zu leben gegen die bornierte Dominanz einer vom Gelde regierten Weit einzutauschen.

Die Frauen aller deutschen Länder sollten versuchen, im Dialog und ohne einander zu übervorteilen jene Formen individueller und kollektiver Selbstbestimmung miteinander auszutauschen, die in ihren jeweiligen Kulturen entstanden sind. Wir sollten uns darum bemühen, uns gegenseitig auf die Höhe der Zeit zu bringen. Wir könnten damit praktisch ein Modell für das Zusammenleben aller Völker abgeben, denn unsere neue deutsche Gemeinsamkeit und Einheit ist nur etwas wert, wenn wir imstande sind, etwas wirklich Neues In die Welt zu bringen und einen wirksamen Beitrag zur Lösung der globalen Probleme zu leisten.

Wir Frauen wissen, dass wir als einzelne kaum eine Chance haben, gesellschaftsgestaltende Kraft zu entfalten, deshalb haben wir uns zusammengeschlossen. Und wir erwarten in unserem Kampf um unsere Rechte die Solidarität und aktive Unterstützung aller linken Kräfte.

Wir fordern mit ihnen die sofortige Analyse unserer wirklichen Lage, denn das Gerede der anderen Deutschen und unserer eigenen Regierung hat dazu geführt, dass wir kein Vertrauen mehr haben in die eigene Kraft, dass wir auf die Währungsunion warten wie auf das 8. Weltwunder.

Dabei haben auch wir etwas einzubringen in die neue deutsche Einheit. Und wir fordern zweitens den Beginn einer umfassenden öffentlichen und deutsch-deutschen Verfassungsdiskussion. Nicht nur wir haben einen Reformbedarf. Auch, die Bundesrepublik ist veränderungswürdig. Ein deutsch-deutscher Einigungsprozess kann nur die Annäherung beider Staaten - ein Aufeinanderzureformieren bedeuten - alles andere wäre die blanke Annexion, die eine bedingungslose Kapitulation der DDR voraussetzt. Aber so reif sind wir noch nicht! Lassen wir uns doch nicht von der Bundesregierung über den Runden Tisch ziehen!!!

Ina Merkel

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