Antrag des unhängigen Frauenverbandes der DDR an den Runden Tisch

Angesichts der desolaten politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Situation auf allen Ebenen hierzulande ist besonders die soziale Lage von Frauen gefährdet. Wir setzen uns ein für eine Wirtschaftspolitik, die gleichwertig eine effektive, ökologisch-soziale und eigenständige Entwicklung der DDR beinhaltet. Mit der Ausrichtung auf ein sozial-progressives und ökologisches Gesellschaftssystem wollen wir einen eigenen Beitrag zum europäischen Haus einbringen, der nicht auf Kosten der Länder der dritten Welt geht. In diesem Rahmen fordern wir für die Durchsetzung von Frauen- und Gesellschaftsinteressen die sofortige Umsetzung nachfolgender Maßnahmen:

1 .
Einsetzung einer Gleichstellungsbeauftragten mit den Kompetenzen einer Ministerin.

In den Kompetenzbereich dieser Gleichstellungsbeauftragten fällt

- die Überprüfung aller Gesetze, Maßnahmen, Verordnungen und deren Durchführung (i.f.: Gesetze usw.) im Hinblick auf ihre Konsequenzen bezüglich der ökonomischen und sozialen Lage der Frauen.

- die Gewährleistung der Rechtssicherheit von Frauen auf der Basis bislang gültiger Gesetze und Verordnungen, insbesondere des AGB´s.

- die Vorbereitung eines Staatssekretariats für Frauenfragen beim Ministerrat.

Zur Wahrnehmung dieser Verantwortung sind der Gleichstellungsbeauftragten alle Gesetze usw., die bisher von der Übergangsregierung erlassen und sich im Prozess der Erarbeitung befinden, vorzulegen. Sie besitzt das Recht zum Einspruch mit sofortiger Wirkung, wenn die individuelle und gesellschaftliche Entwicklung von Frauen in allen Lebens-, Ausbildungs- und Arbeitsbereichen eingeschränkt wird.

2.
Die sich nach dem 6.5.1990 bildende neue Regierung hat ein Staatssekretariat zur Gleichstellung der Geschlechter (Frauenfragen) zu schaffen, das bei der Erarbeitung und Realisierung der Gesetze usw. die soziale Gleichstellung der Geschlechter in allen gesellschaftlichen Bereichen zu gewährleisten hat. Das Staatssekretariat trägt koordinierenden Charakter. Es arbeitet mit einzusetzenden Frauenbeauftragten aller Ministerien zusammen.

3.
Das Staatssekretariat trägt die Verantwortung für die Erarbeitung eines Gleichstellungsgesetzes im Sinne einer aktiven Gleichstellungspolitik und deren Realisierung. Vorausgesetzt wird, dass im Rahmen der Erarbeitung der neuen Verfassung der DDR der Artikel 20 der DDR VerfassungArtikel 20, Abs. ("Mann und Frau sind gleichberechtigt...") überarbeitet wird.

4.
Bei der bevorstehenden Wirtschafts- und Verwaltungsreform ist das verfassungsmäßige Recht von Frauen auf Arbeit besonders zu schützen. Im Zuge der Erweiterung der Selbständigkeit von Wirtschaftseinheiten fordern wir die Einsetzung von Frauenbeauftragten bei den Betriebsleitungen, die mit den entsprechenden rechtlichen Kompetenzen auszustatten sind. (siehe oben)

Es ist zu sichern, dass durch Arbeitskräfte-Umstrukturierungen, Freisetzung und Neueinstellung

- kein sozialer Abstieg von Frauen bewirkt wird bzw.

- die bestehenden Geschlechterproportionen (Quoten in Qualifikations- und Einkommensgruppen, sowie in Leitungsstrukturen) nicht zuungunsten von Frauen verändert werden

Die mit dem existierenden AGB gegebene Rechtslage ist einzuhalten. In der gegenwärtigen Situation ergeben sich rechtsfreie Räume, die durch entsprechende Verordnungen und Maßnahmen im Sinne einer aktiven Gleichstellungspolitik als Übergangslösungen bis zur Erarbeitung eines neuen Arbeitsgesetzbuches ausgefüllt werden müssen.

5.
Einzugehende Vereinbarungen mit ausländischen Staaten und Firmen dürfen existierende rechtliche Regelungen in Bezug auf Frauen und ihre ökonomische und soziale Lage nicht außer Kraft setzen. Frauendiskriminierende Vereinbarungen sind von Regierungs- und Wirtschaftssubjekten abzulehnen.

6.
Im Rahmen betrieblicher Sozialpolitik sind Sozialpläne zu erarbeiten, die die beruflichen Aufstiegschancen, spezielle Qualifizierungsmaßnahmen und Wiedereingliederung von Frauen in den Arbeitsprozess konkret ausweisen und durchsetzen können.

7.
In der gegenwärtigen Situation sind sofort Maßnahmen zu erlassen, um soziale Härtefälle materiell und finanziell abzusichern. Dazu ist ein entsprechender Sozialfond bei der Regierung zu bilden.

8.
Jede Veränderung im System der Preise, Tarife, Subventionen, Zuwendungen muss:

a) durch Analyse ihrer sozialen Folgen auf die verschiedenen Gruppen von Frauen, insbesondere Alleinerziehende mit ein oder mehreren Kindern bzw. behinderten Kindern, Rentnerinnen, Bezieherinnen von Mindest- und Niedrigeinkommen legitimiert sein und bedarf

b) der Zustimmung durch die Frauen- bzw. Gleichstellungsbeauftragten.

Dieser Antrag an den Runden Tisch der DDR wurde nie zur Beschlussfassung vorgelegt. Er bildete die Grundlage für ein Gespräch mit Modrow und für die folgenden Anträge an den Runden Tisch der Stadt Berlin. /red

[Antrag ohne Datum]

aus: gesammelte Flugschriften DDR `90, Heft 2, Januar 1990, Redaktion und inhaltliche Gestaltung: Aktive aus Ostberlin, Technische Gestaltung, Produktion und Vertrieb: ASTA TU Berlin

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