Demokratie ohne Wenn und Aber

DDR-Lesben und -Schwule rufen zur Gründung eines "rosa-lila Forums" auf

Dokumentation

In den letzten Tagen legten friedliche Willensbekundungen und zahlreiche Unterschriften unter Aufrufen, Resolutionen und Protestnoten Zeugnis von tiefgehenden Spannungen zwischen dem Volk und der politischen Führung unseres Landes ab. (...)

Als linke Lesben, Schwule und Menschen, die immer noch den kategorischen Imperativ vom alten Marx auf ihre Fahnen geschrieben haben, dass es gilt, " ... alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist", treten wir darüber hinaus für eine Seite des menschlichen Lebens ein, die niemandem fremd sein sollte, bislang aber entschieden zu kurz kam: Wir verbinden das Streben nach der umfassenden menschlichen Emanzipation mit dem Kampf um befreite Sexualität und Liebe. Schwule und Lesben erfahren Unterdrückung in dieser Hinsicht doppelt und dreifach.

Noch immer werden die Interessen von Schwulen und Lesben in unserem Land ungenügend berücksichtigt. Die endlich erfolgte formale juristische Gleichstellung kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die zaghafte Erweiterung von Begegnungsmöglichkeiten mehr der Integration von Lesben und Schwulen in ein veraltetes Gesellschaftsmodell als ihrer wirklichen Emanzipation dienen soll.

Es bleiben auch für Lesben und Schwule zu wenige Möglichkeiten, ureigenste Interessen selbst verantwortet wahrzunehmen. Weder gibt es eine wirksame parlamentarische Vertretung noch Medien in eigener Regie.

Die eigentliche, historisch unzweifelhafte Legitimation unseres Staates, der Antifaschismus, bleibt auf halber Strecke stehen, wenn es um das Schicksal Hunderttausender von Schwulen und Lesben in unserer Geschichte und Gegenwart geht.

Darum fordern wir: eine Geschichtsschreibung, die die homosexuellen Opfer des Faschismus nicht länger totschweigt; die Anerkennung der ehemaligen KZ-Häftlinge mit dem rosa Winkel als Verfolgte des Naziregimes, Wiedergutmachung für jene, die auch in der DDR wegen ihrer Liebe zum eigenen Geschlecht verfolgt wurden; eigen verantwortete Strukturen und Organisationen, um unsere Interessen selbst zu vertreten; den Abbau noch bestehender gesetzlicher Benachteiligungen, beispielsweise in Erb-, Steuer- und Adoptionsrecht; neue Wege in der Unverheiratetenpolitik und entsprechende wohnungspolitische Konsequenzen; eine Aids-Politik, die nicht weiterhin durch Ignoranz gegenüber den gruppenspezifischen Problemen von Schwulen Schuld für den Tod von Menschen auf sich nimmt; ein einklagbares Asylrecht für all jene, die aus politischen oder geschlechtsspezifischen Gründen in ihrer Heimat verfolgt werden, also auch für die Schwulen und Lesben Rumäniens, Irans und anderer Staaten; ein konsequentes Berücksichtigen schwulen- und lesbenpolitischer Aspekte in Volksbildung, Armee, Strafvollzug etc. durch Einbeziehung derer, die es angeht, sowie ein Verankern dieser neuen Politik in der Verfassung durch den Grundsatz, dass niemand aufgrund seiner geschlechtlichen Neigung in irgend einer Form diskriminiert werden darf.

Wir begrüßen die aufbrechende Meinungsvielfalt, wie sie sich in den verschiedensten politischen Platt formen, Initiativen und Gruppierungen bis hin zur Parteiengründung artikuliert. Wir sprechen uns für alle Formender friedlichen, demokratischen Meinungsbildung und -äußerung aus. Wir sind bereit, unsere lesben- und schwulenpolitischen Forderungen auch in die traditionellen und sich formierenden politischen Vereinigungen und Strukturen einzubringen.

Wir rufen alle Lesben und Schwulen auf, sich unabhängig vom bisherigen Rahmen ihres Engagements in einem rosa-lila Forum des gemeinsamen Gesprächs zusammenzufinden. Es soll Teil sein eines pluralistisch-sozialistischen gesamtgesellschaftlichen Forums, das sich über unser Land spannt als Neuer Regenbogen.

Berlin, 7. Oktober 1989

aus: taz Nr. 2943 vom 24.10.1989

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