Für unser Land

Unser Land steckt in einer tiefen Krise. Wie wir bisher gelebt haben, können und wollen wir nicht mehr leben. Die Führung einer Partei hatte sich die Herrschaft über das Volk und seine Vertretungen angemaßt, vom Stalinismus geprägte Strukturen hatten alle Lebensbereiche durchdrungen. Gewaltfrei, durch Massendemonstrationen hat das Volk den Prozess der revolutionären Erneuerung erzwungen, der sich in atemberaubender Geschwindigkeit vollzieht. Uns bleibt nur wenig Zeit, auf die verschiedenen Möglichkeiten Einfluss zu nehmen, die sich als Auswege aus der Krise anbieten.

Entweder

können wir auf der Eigenständigkeit der DDR bestehen und versuchen, mit allen unseren Kräften und in Zusammenarbeit mit denjenigen Staaten und Interessengruppen, die dazu bereit sind, in unserem Land eine solidarische Gesellschaft zu entwickeln, in der Frieden und soziale Gerechtigkeit, Freiheit des einzelnen, Freizügigkeit aller und die Bewahrung der Umwelt gewährleistet sind.

Oder

wir müssen dulden, dass, veranlasst durch starke ökonomische Zwänge und durch unzumutbare Bedingungen, an die einflußreiche Kreise aus Wirtschaft und Politik in der Bundesrepublik ihre Hilfe für die DDR knüpfen, ein Ausverkauf unserer materiellen und moralischen Werte beginnt und über kurz oder lang die Deutsche Demokratische Republik durch die Bundesrepublik vereinnahmt wird.

Lasst uns den ersten Weg gehen. Noch haben wir die Chance, in gleichberechtigter Nachbarschaft zu allen Staaten Europas eine sozialistische Alternative zur Bundesrepublik zu entwickeln. Noch können wir uns besinnen auf die antifaschistischen und humanistischen Ideale, von denen wir einst ausgegangen sind. Alle Bürgerinnen und Bürger, die unsere Hoffnung und unsere Sorge teilen, rufen wir auf, sich diesem Appell durch ihre Unterschrift anzuschließen.

Berlin, den 26. November 1989

Als erste haben den Aufruf unterzeichnet:

Götz Rerger, Rechtsanwalt; Wolfgang Berghofer, Kommunalpolitiker; Frank Beyer, Regisseur; Volker Braun, Schriftsteller; Reinhard Brühl, Militärhistoriker; Tamara Danz, Rocksängerin; Christoph Demke, Bischof; Siegrid England, Pädagogin; Bernd Gehrke, Ökonom; Sighard Gille, Maler; Ingeborg Graße, Krankenschwester; Stefan Heym, Schriftsteller; Uwe Jahn, Konstruktionsleiter; Gerda Jun, Ärztin/Psychotherapeutin; Dieter Klein, Politökonom; Günter Krusche, Generalsuperintendent; Brigitte Lebentrau, Biologin; Bernd P. Löwe, Friedensforscher; Thomas Montag, Mediziner; Andreas Pella, Bauingenieur; Sebastian Pflugbeil, Physiker; Ulrike Poppe, Hausfrau; Martin Schmidt, Ökonom; Friedrich Schorlemmer, Pfarrer; Andrèe Türpe, Philosoph; Jutta Wachowiak, Schauspielerin; Heinz Warzecha, Generaldirektor; Konrad Weiß, Filmemacher; Angela Wintgen, Zahnärztin; Christa Wolf, Schriftstellerin.

Walter Janka, der - wie bekannt gegeben wurde - aus organisatorischen Gründen die Pressekonferenz nicht erreichte - stimmt dem Aufruf zu, hat diesen noch nicht unterzeichnet.

aus: Sächsische Zeitung, Nr. 281, 29.11.1989, 44. Jahrgang, Organ der Bezirksleitung Dresden der SED, Herausgeber: Bezirksleitung Dresden der SED


Es gab drei Textentwürfe. Von Dieter Klein, Günter Krusche und Konrad Weiß. Am 25.11.1989 gab es ein Treffen im Robert-Koch-Hörsaal der Charité in Berlin. Dort wurde sich auf einen Entwurf geeinigt. Einen Tag später, in Christa Wolfs Wohnung, entstand die Endfassung. Von ihr stammte die Entweder Oder Gegenüberstellung. Stefan Heym wurde dazu gewonnen den Aufruf vor der Presse vorzutragen. Am 28.11.1989 fand im internationalen Pressezentrum in Berlin eine Pressekonferenz statt, in der der Aufruf vorgestellt und erläutert wurde. Konrad Weiß sagte dort, die Initiative zu einem Aufruf ging auf Dick Boer zurück. Unterstützung aus Westdeutschland gab es durch den Aufruf "Für Euer Land, für unser Land".

Das offizielle Ende der Unterschriftenaktion war der 19.01.1990. In einer Erklärung wurde am 23.01.1990 mitgeteilt, dass den Aufruf 1 167 048 Bürgerinnen und Bürger unterschrieben hätten, bei 9 273 Ablehnungen. Kein anderer Aufruf erhielt so viele Unterschriften. Auch wenn sehr viel über und wegen des Aufrufs diskutiert wurde, die Zeit ging über den Aufruf hinweg. Er war eine der ersten Möglichkeiten für die DDR-Bevölkerung im Herbst 1989 abzustimmen.

Zu den Erstunterzeichnern gehörte bewusst nicht die SED-Führung. Zur Volkskammersitzung am 01.12.1989 wurde die Erklärung zur Unterschrift ausgelegt. Volkskammerpräsident Maleuda forderte dazu auf den Namen unter die Erklärung zu setzen.

Ende November unterzeichnen die Mitglieder des Sekretariats und die Bezirksvorsitzenden der LDPD den Aufruf. Der Leipziger-Bezirksvorsitzende unterschrieb auch noch den "Leipziger Aufruf", der sich gegen den Aufruf "Für unser Land" richtet.

Auch der Vorsitzende der CDU, Lothar de Maizière, unterschreibt den Aufruf.

Nach der Unterschrift von Egon Krenz, beeilen sich die Initiatoren zu betonen, dass der Aufruf eine Initiative von Persönlichkeiten sei und keine von staatlichen Stellen. Egon Krenz war damals noch Generalsekretär der SED und Vorsitzender des Staatsrats.

Egon Krenz schreibt in seinem Buch "Herbst `89": "Für mich ist dieser Aufruf das wichtigste Dokument dieses Herbstes über alle Parteigrenzen hinweg".

Und: "Kaum hat ADN meinen Brief veröffentlicht, da hagelte es Proteste: Eine Unterschriftenaktion ja, aber bitte keine Unterschriften der SED-Oberen! Dies würde die Initiative 'Für unser Land' entwerten".

Und: "Mit jedem Tag wird klarer, dass ich verlorenes Vertrauen nicht zurückerobern kann".

Auch Hans Modrow unterzeichnete. Als Provokation bezeichnete die Organisationsgruppe des Aufrufs, die Erklärung des Leiters des Amtes für Nationale Sicherheit (davor MfS), Wolfgang Schwanitz, die Mitarbeiter seines Amtes stehen hinter dem Aufruf. Auch der letzte Ministerpräsident der DDR, Lothar de Maizière unterschrieb den Aufruf.

Der Aufruf war auch Anlass Aufrufe zu verfassen, die den Ursprungsaufruf veränderten oder Gegenaufrufe ins Leben zu rufen. Auch von Einzelpersonen. Friedrich Schorlemmer verfasste kurze Zeit später eine Stellungnahme zu dem Aufruf. Auch Bischof Christoph Demke verfasste einen eigenen Text. Die Initiative zur demokratischen Umgestaltung Plauen verfasste einen Gegenaufruf. Auch in Leipzig wird als Reaktion auf den Aufruf "Für unser Land" ein "Leipziger Aufruf" verfasst. Für den "Leipziger Aufruf" wurden ebenfalls Unterschriften gesammelt. Ein Offener Brief wurde an Stefan Heym gerichtet.

In der BRD wurde ein Aufruf "Für Euer Land, für unser Land" verfasst.

Dick Boer, war Pfarrer der Niederländischen Ökumenischen Gemeinde in der DDR. Die Idee zu einem Aufruf mit der Sammlung von Unterschriften, geht auf eine frühere Unterschriftensammlung in den Niederlanden gegen die Neutronenbombe zurück.

Dieter Klein (SED), war 1989 Professor für Politische Ökonomie und Prorektor für Gesellschaftswissenschaften an der Humboldt-Universität Berlin.

Günter Krusche war 1989 Generalsuperintendent der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg.

Konrad Weiß, war 1989 Sprecher von Demokratie Jetzt.


Der Aufruf "Für unser Land", den Persönlichkeiten in der DDR am 28. November 1989 der Öffentlichkeit übergeben haben, wird von dem Vorsitzenden der CDU, Lothar de Maizière, begrüßt. Er würdigt es als ein Hoffnungszeichen, dass Menschen, die unterschiedliche politische Standpunkte vertreten, mit einer Stimme sprechen, wenn es um die Existenz unseres Staates und um die demokratische Erneuerung unserer Gesellschaft geht. Alle Mitglieder der CDU, die sich die Aussagen des Aufrufs zu eigen machen können, werden gebeten, dies durch ihre Unterschrift zu bekunden.

Reaktionen von CDU-Mitgliedern beinhalten auch kritische Anfragen zum Aufruf. In der Präambel werde der Eindruck erweckt, als ob der Stalinismus in unserem Land bereits bewältigt sei. Zum anderen meinen CDU-Mitglieder, es gelte anzuerkennen, dass die Überwindung der Krise in der DDR beide deutsche Staaten in eine besondere Verantwortungsgemeinschaft für das künftige Zusammenleben der Völker in Europa stellt. Dies bedeute anzuerkennen, dass der Weg aus der Krise auch eine wachsende, vor allem eine wirtschaftliche Kooperation mit der BRD beinhalte.

Neue Zeit, Fr. 01.12.1989

Die Initiative Vereinigte Linke (Berlin) stimme in vollem Wortlaut mit dem Appell "Für unser Land" überein, heißt es in einer dem ADN übergebenen Stellungnahme der Initiative. Die Unterzeichner des Appells vom 26. November hätten die Gefahren des Ausverkaufs unserer materiellen und moralischen Werte" und der Vereinnahmung der DDR durch die BRD deutlich formuliert.

Die Initiative Vereinigte Linke erkläre sich ausdrücklich:

- für eine vertraglich auszugestaltende Verantwortungsgemeinschaft beider deutscher Staaten für Frieden und Zusammenarbeit in ganz Europa und in der Welt;

- für die uneingeschränkte Anerkennung der Souveränität zweier deutscher Staaten einschließlich deren Staatsbürgerschaft;

- für den Ausbau der politischen und wirtschaftlichen Zusammenarbeit beider deutscher Staaten auf dieser Grundlage;

- für die sozialistische Perspektive der DDR und

- gegen die Wiedervereinigungskampagne seitens der BRD.

Bauern-Echo, Fr. 01.12.1989

BERLIN (NZ). Der Vorsitzende der National-Demokratischen Partei Deutschlands, Günter Hartmann, wandte sich Dienstagabend telegrafisch an Andrée Türpe, einen der Initiatoren des Appells "Für unser Land". Das Telegramm bat folgenden Wortlaut:

Herrn

Andrée Türpe

(...)
Berin
1199

Voll und ganz unterstütze ich den Appell "Für unser Land" und bekenne mich als Vorsitzender der National-Demokratischen Partei Deutschlands zu der darin enthaltenen sozialistischen Alternative.

Günter Hartmann

National-Zeitung, Do. 30.11.989

Die Unterzeichnung des Aufrufes "Für unser Land" ist von Mitarbeitern des Forschungsinstitutes Manfred von Ardenne, Mitgliedern der Staatskapelle Dresden, Solisten der Staatsoper und Kollektiven Dresdener Betriebe abgelehnt worden. Sie begründen dies in einem Gegenaufruf damit, dass es sich bei der angebotenen "Entweder-Variante" um "Illusionen der Verfasser" handele. "Es genügt nicht, wenn wir uns den Kopf über gerechtes Verteilen zerbrechen. Es muss zuerst effektiv und genügend produziert werden. Wir haben genug von den Utopien! Alle Versuche, die zentrale Planwirtschaft zu reparieren, sind gescheitert. Das sozialistische Wirtschaftssystem mit zentralisierter Planung ist der sozialen Marktwirtschaft Westeuropas unterlegen," wird erklärt.

Die DDR-Wirtschaft sei in vielen Bereichen nicht konkurrenzfähig. Die DDR könne nur im Verband einer größeren Wirtschaftseinheit überleben. Der RGW sei nicht die Lösung. "Wir sind gegen weitere Experimente. Die Vereinigung der beiden deutschen Staaten," heißt es weiter, "ist nicht für alle Zeiten ausgeschlossen. Unsere Blicke richten sich jedoch mehr nach Strasbourg als nach Bonn. Unsere Zukunft liegt in einer engen Bindung an die EG. Von der Regierung fordern wir ein Programm zur Einführung marktwirtschaftlicher Prinzipien."

Neue Zeit, Mo. 11.12.1989, Jahrgang 45, Ausgabe 291

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