Austausch der Feindbilder

Ein Brief an die Besetzer der Stasi-Zentrale in der Normannenstraße

DOKUMENTATION

Liebe Besetzer der Stasi-Zentrale!

Ich wünsche Eurer Aktion den nötigen Erfolg - in unser aller Interesse. Vor allem muss das Recht für jedermann hergestellt werden, die eigene personenbezogene Akte einsehen zu können. Jeder muss das Recht erhalten, Kopien vom eigenen Vorgang anzufertigen und - bei Unkenntlichmachung einzelner Namen oder im Einverständnis mit den betroffenen Personen - Teile der eigenen Akte öffentlich zu machen. (Die Einsichtnehmenden werden das besser verkraften als jene acht Millionen DDR-Bürger, die in der Gewissheit weiterleben müssen, nicht mal einer Akte würdig gewesen zu sein.) Erster Einwand zu Euren Forderungen: Das Recht, die eigene Akte zu vernichten, ist problematisch. Diese Privatisierung von Geschichte zerreisst das Analysieren von möglicherweise wichtigen Zusammenhängen. Ihr zum Beispiel seid nicht erst durch Eure jetzige Aktion "Personen des öffentlichen Interesses", also auch der späteren Geschichtsaufarbeitung.

Wer lieber an die Gegenwart denkt, sollte an die Missbrauchmöglichkeiten nach der Vernichtung seiner Akte denken, da er nicht weiß, wo welche Kopien oder Aktenteile kursieren. Ich erinnere nur an Ralf Hirsch. Hätte er seine Akte zu Hause gehabt, wäre die Spitzelverleumdung nicht widerlegbar gewesen. Denn eine privat verwahrte Akte gilt im Zweifelsfall immer als retuschiert. Der Gesamtzusammenhang auch der personengebundenen Akten muss gewahrt bleiben, um einzelne Blätter (oder gefälschte Blätter) notfalls glaubhaft einordnen zu können. Mein zweiter Einwand, liebe Besetzer, trifft den generellen Ausschluss ehemaliger Stasi-Leute aus dem öffentlichen Dienst. Es ist nötig, sie von politischen, verwaltungstechnischen und meinungsbildenden Schlüsselpositionen auszugrenzen. Aber hier muss ein Kriterienkatalog geschaffen werden, der nicht wieder Briefträger und Lokführer überwacht. Eine zweijährige Stasitätigkeit muss anders als eine zwanzigjährige gewertet werden. Und auch die Art der Tätigkeit bleibt zu berücksichtigen. Ebenso die Frage, ob sich jemand selbst als ehemaliger Mitarbeiter der Diskussion stellt. Es muss einen Ansporn zur Erinnerungsarbeit, zum Sich-Offenbaren, zur Diskussion geben.

"Keine Vereinigung von MfS und BND" heißt es auf einem Eurer Plakate. Warum nicht? Das Leichengift des MfS würde dem BND bestimmt nicht bekömmlich sein. Man sollte den BND geradezu verpflichten, all das Material gründlich von Anfang bis Ende zu lesen. Am besten: eigene Akten über diese Akten anfertigen lassen. Damit dürfte dann der BND für die nächsten zehn Jahre erledigt sein. Leider wird uns der BND nicht den Gefallen tun, er bleibt beim Abo der taz und anderer - neuerer - Quellen, um zu erfahren, was Ihr so vorhabt. Sprechen wir doch einmal Klartext: BND und Verfassungsschutz sind eher vertrottelte deutsche Beamtenvereine als funktionsfähige Geheimdienste! Briefträger wegen DKP-Mitgliedschaft den Beamtenstatus verweigern, für mehr reichte es nicht.

Dabei waren DKP-Mitglieder die einzigen zuverlässigen bundesdeutschen Briefträger, denn nur DKP-Mitglieder wurden nicht von der Stasi angeworben (mit denen hatte man anderes vor).

Warum die Akten auch aus meiner Sicht auf DDR-Gebiet bleiben müssen? Weil westdeutsche Geheimdienstleute Angst vor der Blamage haben, wenn alle Details einmal offenbar werden. Ich wage die Voraussage: der BND war nicht viel mehr als ein Datenzulieferer für die Staatssicherheit. Deshalb habe ich keine Angst vor der Auswertung der Daten, sondern vor einer Vernichtung.

Im Übrigen müssen wir uns auf Missbrauch von Daten einstellen. Schon das Geldinstitut jedes einzelnen könnte ein Interesse haben, zu überprüfen, wieweit er kreditfähig ist. Jederzeit elektronisch abrufbare Daten - zum Beispiel medizinische - sind eine Gefahr. Jeden potentiellen Arbeitgeber interessieren eher die Blutdruckwerte seines künftigen Angestellten als seine politische Haltung im Jahr 1986.

Liebe Besetzer, an der Problematik in der momentanen Situation sind auch die Bürgerbewegungen nicht unschuldig. Zu viele Eurer Leute haben im letzten Herbst und Anfang des Jahres noch gegen eine Öffentlichmachung der Akten plädiert. Und was für ein Geschrei bei der taz-Adressenliste - statt eine Atmosphäre zu schaffen, in der jeder Interessierte sich um eine Vervollständigung dieser Liste bemüht. Dann wäre es heute ehemaligen Stasileuten da und dort schwerer, sich weiter konspirativ zu treffen. Ihr hattet es in einigen Situationen in der Hand, Umstände und Fakten zu schaffen, von denen heute jeder ausgehen müsste. Auch das Geschwätz, es sei allein unsere Sache, diese Geschichte aufzuarbeiten, verkennt die Dimensionen des Geschehens. Nicht nur die Opfer (und Täter) der Folter dürfen die Folter verurteilen. Mindestens die ehemaligen DDR-Bürger, die überwachten Bundesbürger betrifft es auch. Das MfS arbeitete eben schon vorausschauend gesamtdeutsch. Natürlich müssen die Akten hier bleiben, damit sie nicht beim Transport verloren gehen. Ihre Auswertung sollten integere Leute aus beiden deutschen Staaten vornehmen - mitunter ist auch Distanz wichtig. Ein Gesetz wäre angebracht, dass das Urheberrecht bei der Auswertung der Akten einer Stiftung von Opfern des MfS überträgt. Und es ist nun mal so, dass die Bürgerbewegungen durch ihre Aktivitäten vor der Wende, durch ihre auf Zerschlagung der Stasi-Strukturen zielenden politischen Aktionen danach, sich eine sowohl fachliche als auch moralische Kompetenz bei der Verwaltung dieses Erbes erworben haben. Eure politischen Vorstellungen für die gesamte Gesellschaft wurden von der Bevölkerung nicht angenommen, das heißt aber nicht, dass nicht eine Mehrheit in Euch angemessene Sachwalter bei diesen Fragen sieht.

Insofern sollten die die Akten kontrollierenden Menschen Mitarbeiter einer parteiunabhängigen Stiftung sein, die aus ehemaligen DDR-Parteivermögen und neuen Spenden (und Veröffentlichungstantiemen) gespeist wird. In puncto Geheimdienst bleibt zwar Misstrauen angesagt - journalistisch-öffentliche und parlamentarisch-interne Kontrolle sollten dem BND und Verfassungsschutz aber klare Rahmenbedingungen schaffen. Eindämmung des Rechtsradikalismus und internationaler terroristischer Aktivitäten als Schwerpunkt. Natürlich klingt die Forderung nach Auflösung jedes deutschen Geheimdienstes sympathisch. Was hieße das? KGB und CIA tummeln sich ungehemmt, unkontrolliert hier. Könnte ein deutscher Nachrichtendienst nicht auch die gesetzliche Verpflichtung auf den Dienstweg bekommen, den Bürger vor Aktivitäten und Anwerbungsversuchen ausländischer Geheimdienste zu schützen? Um das Misstrauen der ehemaligen DDR-Oppositionellen gegenüber dem BND abzubauen, gäbe es nur einen revolutionären Akt: Statt des SPD-Abgeordneten Konrad Porzner müssen Vertreter der Bürgerbewegungen den BND leiten. Dies wäre auch eine Geste an die gesamte DDR-Bevölkerung, die Gleichberechtigung und Vertrauen signalisiert. Es dürften auch noch mal Politiker sein, wenn sie in ihrer bisherigen Arbeit sich Kompetenz erwarben und Konsequenz bewiesen. Thomas Krüger (Stadtrat für Inneres Ost-Berlin), Reinhard Schult (Neues Forum) und der seit der Wende mit der Stasi-Auflösung befasste Werner Fischer wären die richtigen Leute, den Geheimdienst gesamtdeutsch neu zu strukturieren und zu kontrollieren.

Lutz Rathenow

Der Autor ist freier Schriftsteller und lebt in Ost-Berlin

aus: taz Nr. 3205 vom 08.09.1990

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