Unsere Kommission ist ein Stück verwirklichter Volksdemokratie

BZ sprach mit drei Mitgliedern des Berliner Untersuchungsausschusses zu den Oktoberereignissen 1989

Noch in diesem Monat wird der Untersuchungsausschuss, der sich mit den Ereignissen vom 7. und 8. Oktober in Berlin befasst, der Stadtverordnetenversammlung einen vorläufigen Abschlussbericht vorlegen. Um die Bilanz der bisherigen Arbeit ging es in einem Gespräch, das BZ mit drei Ausschussmitgliedern führte: Professor Dr. Heinrich Fink, Dekan der theologische Fakultät der Humboldt-Uni, Dr. Lothar Franz, Rechtsanwalt, und Martin-Michael Passauer, Pfarrer der Sophiengemeinde.

BZ: Warum ist soviel Zeit verstrichen, bis man zu ersten konkreten Ergebnissen kam?

M. Passauer: Wir sind Anfang November angetreten, diejenigen zu ermitteln, die mit ihren Befehlen das brutale Vorgehen der Sicherheitskräfte zu verantworten hatten. Erst nach und nach wurde deutlich, dass es gar keine konkreten Befehle dafür gab. dass dieses Zusammenspiel zwischen Staatsmacht und Sicherheitsapparat ganz automatisch funktionierte.

H. Fink: Hinzu kam, dass der verbalen Bereitschaftserklärung von Politikern und Offizieren, unsere Arbeit zu unterstützen, kaum Taten folgten. Die eine oder andere Videoaufzeichnung war verschwunden, Fotos gab's von manchen Schauplätzen angeblich gar nicht, Namenslisten und Dienstpläne sind vernichtet worden.

Dr. Franz: Zieht man jedoch in Betracht, dass von der Kommission kein losgelöstes Einzelereignis untersucht wurde, sondern der Endpunkt einer verfehlten, jahrzehntelang praktizierten Politik, dann haben wir in den vergangenen drei Monaten eigentlich viel erreicht. Wir deckten Strukturen und Mechanismen des Sicherheitsapparates auf, beförderten einige Fakten ans Tageslicht, die die enge Verflechtung von SED und Staatssicherheit belegen, konnten der Staatsanwaltschaft eigenes Material für deren Ermittlungsverfahren übergeben. Wir ermittelten auch einige der Verantwortlichen für das Geschehen vom 7. und 8. Oktober. Leider aber nicht alle, was wir um so mehr bedauern, da wir unsere Arbeit vor allem der Betroffenen wegen aufnahmen. Ihnen gegenüber hat die Gesellschaft eine Schuld abzutragen.

BZ: Welche Forderungen leiten Sie aus den Erkenntnissen der Kommission für die bereits begonnene Rechtsreform ab?

Dr. Franz: In der Strafprozessordnung müssen nachprüfbare Bedingungen für Zuführungen und die Wahrung der Menschenwürde dabei exakt festgehalten sein. Die Normen des Strafgesetzbuches über die Beeinträchtigung staatlicher und gesellschaftlicher Tätigkeit sowie über Zusammenrottung müssen aufgehoben, der Tatbestand des Rowdytums so abgeändert werden, dass friedliche und gewaltlose Demonstranten nicht länger kriminalisiert werden können. Demonstrations- und Versammlungsgesetz, die gesetzliche Sicherung freier Meinungsäußerung, mehr Befugnisse zur Aufsicht der Staatsanwaltschaft über die Sicherheitsorgane und das Recht auf Verweigerung ungesetzlicher Befehle wären weitere Stichworte. Unbedingt vonnöten ist es, die parlamentarische Kontrolle der Sicherheitsorgane festzuschreiben.

BZ: Was sind die wichtigsten Ergebnisse Ihrer Arbeit?

Prof. Fink: Zunächst: Es gab keinen Befehl zur Gewalt. Es ist aber Unsinn, was uns viele Verantwortliche weismachen wollten, wonach alle von den Demonstrationen am 40. Jahrestag überrascht wurden und die dadurch entstandene Hektik die Übergriffe begründet. Die Zuspitzung der Lage in unserem Land ließ damals alles andere als einen beschaulichen Republikgeburtstag erwarten. Bewiesen ist, für die alte Führung marschierte die Konterrevolution auf der Straße, und so setzte sich ein Apparat in Gang, der bei diesem Stichwort genau und überlegt zu handeln verstand.

M. Passauer: Eine über Jahre hinaus falsche politische Einschätzung der Situation im Land hatte zu einem völlig verzerrten Feindbild bei vielen Sicherheitskräften geführt. Alle Andersdenkenden wurden als potentielle Konterrevolutionäre eingestuft. Im "Schutz" dieses Feindbildes konnte etwa jeder Polizist einem Andersdenkenden im Revier ruhigen Gewissens eins über den Kopf ziehen, wenn dieser sich wehrte. Der Polizist handelte schließlich im Interesse des Staates. Über eines müssen wir uns klar sein - mit Oppositionellen sprangen unsere Sicherheitskräfte, von Stasi bis VP, in der Vergangenheit nie zimperlich um.

Dr. Franz: Insofern waren die Oktoberereignisse nur eine logische, wenngleich in ihren Dimensionen schockierende Fortsetzung einer üblichen Praxis. Eine weitere wesentliche Erkenntnis ist aber auch die, wie sehr SED, Stasi und Polizei ineinander verwoben waren und gewählte Gremien ausgrenzten. Wir konnten das an einigen konkreten Beispielen belegen. Unsere Kommunalpolitiker hatten beispielsweise keinerlei Einfluss auf die Sicherheitskräfte in ihrem territorialen Verantwortungsbereich. Der Magistrat ist in dieser Frage zur Bedeutungslosigkeit verurteilt gewesen, der Oberbürgermeister, sein Stellvertreter für Inneres sie wurden nicht einmal informiert.

M. Passauer: Krack hat Schabowski am 8. Oktober angerufen, weil ihm am Vorabend aufgefallen war, dass "etwas los sei in der Stadt". Aber ist es dann nicht ein politisches Versagen, sich widerspruchslos mit der Antwort abspeisen zu lassen, der Magistrat ich vereinfache jetzt mal solle sich aus der Politik heraushalten und sich um Müllabfuhr und Ampeln kümmern?

BZ: Damit wären wir bei der politischen Verantwortung, die Sie und die anderen Kommissionsmitglieder ja bei jeder Anhörung hartnäckig nachfragten.

Prof. Fink: Ich halte sie nach wie vor für mindestens ebenso wichtig wie die juristische Verantwortung. Die damalige Macht Honeckers und Mielkes ist ja unbestritten, aber es wäre doch Wahnsinn anzunehmen, dass die DDR nur von diesen beiden alten, kranken Männern regiert wurde, gegen die niemand aufzumucken wagte. Genau das wollten uns jedoch Krenz, Schabowski, Herger und zuletzt Mielkes Ex-Stellvertreter Mittig und Schwanitz weismachen, als wir sie drängten, ihre Mitschuld einzugestehen. Diese Haltung finde ich charakterlos.

M. Passauer: Und es stimmt ja auch nicht. Bei uns herrschte ja kein Diktator à la Ceauşescu. Wer das vertritt, will nur seine eigene Haut retten. Vielmehr wurden Honecker und Mielke von einem riesigen Apparat gestützt, der bis ins kleinste Rädchen funktionierte. Dieses System war so perfekt, dass es in bestimmten Situationen keines Befehls mehr bedurfte; es reichte, Stimmungen, Fakten tendenziös zu interpretieren, und jeder einzelne aus dem Apparat wusste, was er gegen wen zu unternehmen hatte.

BZ: Wie geht es mit der Kommission weiter?

Dr. Franz: Ohne Beschlüssen des Ausschusses vorgreifen zu wollen, glaube ich, dass wir unsere Untersuchungen im wesentlichen abschließen können. Wir wollen aber unser Mandat behalten, um uns von Zeit zu Zeit vom Generalstaatsanwalt über den Fortgang der Ermittlungen informieren zu lassen. Außerdem werden wir uns weiterhin dafür einsetzen, dass die Volkskammer bald ein Rehabilitierungsgesetz verabschiedet, damit die zu Unrecht Bestraften und Geschädigten der Oktobertage - und auch der Zeit davor - endlich vollständig rehabilitiert werden. Außerdem so meine ich - sollte durch die Volkskammer eine offizielle Entschuldigung gegenüber allen Opfern des Oktober in der DDR ausgesprochen werden, da von ihnen ja entscheidende Impulse für die Erneuerung ausgingen.

BZ: Viel Misstrauen wurde Ihrer Kommission von Seiten der Polizei entgegengebracht. Worauf führen Sie das zurück?

M. Passauer: Darauf, dass die Polizei noch immer nicht die Ereignisse von damals aufgearbeitet hat. Die Polizisten machen sich ihre Gedanken über das, was sie mal hier, mal dort aufgeschnappt haben, aber sie werden mit ihren Zweifeln, ihren Fragen von ihren Vorgesetzten allein gelassen. Dabei war ja ein Teil von ihnen gar nicht an den brutalen Übergriffen beteiligt. Warum setzen sich die Offiziere dann nicht mal mit ihren Leuten zusammen und erklären ihnen, was damals abgelaufen ist und wer dafür zur Verantwortung gezogen wurde?

Prof. Fink: Ich halte diese Aufarbeitung für unumgänglich, soll der Erneuerungsprozess in der Polizei sich auch nach außen hin spürbar vollziehen. Wir brauchen eine Polizei, die nicht mehr zum Schutz des Staates, sondern zum Schutz der Bürger da ist. Eine Polizei, die gegen wirkliche Kriminalität und Gewalttätigkeiten konsequent vorgeht. Dazu gehört, dass jeder Polizist gegenüber Bürgern vorurteilsfrei und den gesetzlichen Bestimmungen entsprechend auftritt. Alte Strukturen müssen verändert, die Hierarchie einer Gleichberechtigung von Kollegen weichen. Hierzu ist übrigens auch eine kräftige Polizeigewerkschaft vonnöten.

BZ: Gut ein Vierteljahr Arbeit im Untersuchungsausschuss hegen hinter Ihnen. Was hat Ihnen diese Zeit persönlich gegeben?

Dr. Franz: Das gute Gefühl, an einem wichtigen Stück Vergangenheitsbewältigung mitgearbeitet zu haben. Aber mindestens ebenso wichtig ist mir das Vertrauen, das viele Betroffene mir entgegenbrachten.

Prof. Fink: Ich habe ein Stück wahre Volksdemokratie erlebt, denn die Einsetzung dieser Kommission erfolgte ja nach den Forderungen des Volkes. Heute reden alle über den Runden Tisch, aber wir waren das erste demokratische Gremium in dieser Stadt. Mit Erschrecken habe ich die Verflechtung von Politik, Staat und Gesellschaft wahrgenommen, die meine schlimmsten Ahnungen noch übertraf. Jetzt weiß ich, wie wichtig es ist, demokratische Prozesse auch rechtlich abzusichern.

M. Passauer: Diese Kommission ist in etwa ein Spiegelbild jener Gesellschaft, wie ich sie mir wünsche. Im Ausschuss sitzen Arbeiter und Intellektuelle, Pfarrer, Künstler, Angestellte und Wissenschaftler, Frauen und Männer also ein buntes Gemisch, auch was die politischen Meinungen betrifft. Diese Unterschiedlichkeit war unser großer Vorteil, weil wir uns gegenseitig akzeptierten und um der gemeinsamen Sache willen unsere teils konträren Auffassungen in politischen Tagesfragen hintenan stellten. Dass dies funktioniert hat, ist vielleicht meine wichtigste persönliche Erfahrung der letzten Wochen. Sie macht Mut für die Zukunft.

Das Gespräch führte
Andreas Förster

aus: Berliner Zeitung, Jahrgang 46, Ausgabe 38, 14.02.1990. Die Redaktion wurde mit dem Karl-Marx-Orden, dem Vaterländischen Verdienstorden in Gold und dem Orden "Banner der Arbeit" ausgezeichnet.

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