"Die Opposition muss sich profilieren"

Sabine Leger (29) ist Vorstandsmitglied bei den ostdeutschen Sozialdemokraten (SDP) / Sie arbeitet als Landschaftsarchitektin

taz: Die Mauer ist weg. Was nun?

Sabine Leger: Das ist die große Frage. Dass es so schnell geht, hat alle überrascht. Damit hat auch von uns niemand gerechnet.

Was steht für die SDP als nächstes an?

Ich denke, für uns SDP-Mitglieder gibt es viel theoretische Arbeit. Wir müssen überlegen, in welche Richtung es weitergehen soll. Ich hab viele Gespräche geführt mit Leuten, die von Kurzreisen nach West-Berlin zurückgekommen sind. Die sind natürlich ganz begeistert, weil sie das das erste Mal erlebt haben. Gleichzeitig überlegen sie aber auch ziemlich genau, ob sie dieses westliche Modell für sich akzeptieren.

Ob sie hier leben wollen?

Ja, schließlich ist es ein Unterschied, ob man es nur mal anguckt, oder ob man selbst in diesem System lebt. Ich hab` das Gefühl, die kommen ganz gern auch wieder zurück. Außerdem sehen sie nicht ein, warum sie in der Turnhalle schlafen sollen, wenn zu Hause ein Bett steht.

Habt ihr Angst, dass die Ausreisewelle anhält?

Nein. Jetzt hab ich keine Angst mehr. Der Druck ist von den Leuten genommen, sich jetzt entscheiden zu müssen. Das war ja das eigentlich Unmenschliche, dass man sich entscheiden musste: Entweder ich gehe jetzt oder ich bleibe - mit allen Konsequenzen. Dass dieser Druck weg ist und man in der DDR freie, geheime und demokratische Wahlen angekündigt hat, ist ein Hoffnungszeichen.

Freie Wahlen erst 1991. Ist das nicht zu spät?

Ich weiß nicht ob '91 oder Ende '90. Auf jeden Fall find ich gut, dass es nicht sofort ist. Die Gruppen, die zur Diskussion stehen, müssen sich erst mal profilieren. Unsere Partei besteht einen Monat. Wir haben jetzt erst angefangen, uns in Strukturen zu bewegen, Mitglieder zu werben. Wir wären noch gar nicht in der Lage, Regierungsverantwortung zu übernehmen.

Und wie soll es bis zum Wahltermin weitergehen?

Wichtig für diese Zwischenzeit ist, dass die DDR die Möglichkeit erhält, sich nach innen zu profilieren. Dass die Gruppen Möglichkeiten haben, sich zu artikulieren, sich zu strukturieren, um überhaupt fähig zu werden, in einen Wahlkampf einzutreten. Und ich wünsche mir, dass sich die Bundesregierung zurückhält und auch nicht in das wirtschaftliche Geschehen eingreift...

... und nicht der Ausverkauf der DDR einsetzt?

Davor hab ich wirklich Angst. Die bundesdeutsche Industrie steht in den Startlöchern und braucht nur noch Arbeiter und Land. Das wollen wir nicht unterstützen, das ist nicht unser Interesse. Wir wollen lieber einen langsamen wirtschaftlichen Aufstieg mit einem sozialen Netz, wo keiner durchfällt.

Aber viele, die jetzt noch drüben bleiben, wollen wirtschaftliche Veränderung jetzt. Sie wollen nicht mehr warten, bis es irgendwann mal besser wird.

Wichtig ist, dass die Leute sich wieder mit ihrer Arbeit identifizieren können, dass sie wieder einen Bezug haben zu dem, was sie machen. Und das ist nur zu erreichen, wenn gemischte Eigentumsstrukturen möglich sind: dass man alleine oder mit ein paar Leuten Privatbetriebe aufbauen oder sich genossenschaftlich vereinigen kann. In den Schlüsselindustrien, die Volkseigentum bleiben sollen, muss Selbstverwaltung und Mitbestimmung zur Tagesordnung gehören. Es muss aber Gewinnbeteiligung geben, damit man weiß, wofür man arbeitet.

Wie sollte die Bundesrepublik den Prozess in der DDR unterstützen?

Da kann ich nur für mich sprechen. Ich wünsche mir, dass der Austausch von Informationen intensiver wird, dass wir wissenschaftlich und kulturell enger zusammenarbeiten.

Und wirtschaftlich?

Nicht mit westlichen Almosen. Es muss klar sein, diese Leistungen bringen wir, und die bringt ihr dafür. Der Modus muss klar sein, damit keine Abhängigkeit entsteht. Das würde ich als sehr bedrückend empfinden. So geht es mir ja schon jetzt mit dem Begrüßungsgeld. Natürlich freuen sich die Leute, wenn sie sich ein paar Wünsche erfüllen können, aber es stärkt nicht gerade ihr Selbstbewusstsein.

Was passiert mit der SED? Sie scheint den politischen Prozessen eher hilflos ausgeliefert zu sein.

Den Eindruck hab ich auch. Ich war zum Beispiel am Donnerstag Abend bei einem Gesprächsforum in Karlshorst (Ostberlin), wo auch Vertreter der CDU und LDPD vertreten waren. Dann kam im Laufe des Abends die Frage auf: Na, wo ist denn ein Vertreter der SED-Kreisleitung. Und dann hieß es, die SED-Kreisleitung sei am gleichen Tag zurückgetreten. Die entziehen sich ihrer Verantwortung und sind einfach nicht mehr auffindbar. Das ist ein Zustand, der überhaupt nicht akzeptiert werden kann. Die können nicht aus ihrer Verantwortung entbunden werden, nachdem sie die Karre 40 Jahre in den Dreck gefahren haben. Zumindest darf man, bis andere Strukturen greifen, kein Vakuum entstehen lassen. Die SED kann sich jetzt nicht einfach zurückziehen.

Das Interview führte Bascha Mika

aus: taz, Nr. 2961 vom 13.11.1989

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