Will Bonn das Stasi-Material für Gesinnungsprüfung?

Jens Reich sieht nur einen Grund, warum Bonn die Regelung der Volkskammer für die Stasi-Akten ablehnt

taz: Herr Reich, können Sie sich vorstellen, dass die Besetzer der Normannenstraße ihre Forderung durchsetzen können, dass die Stasi-Akten nicht wie geplant einem Sonderbeauftragten einer gesamtdeutschen Regierung, sondern den künftigen DDR-Ländern unterstellt werden?

Jens Reich: Sie haben das Notwendige gemacht, nachdem sich das Parlament bei den Verhandlungen um den Einigungsvertrag gegenüber der Bundesregierung nicht durchsetzen konnte. Innenminister Diestel hatte in der Volkskammer behauptet, dass er das vom Parlament beschlossene Gesetz über die Sicherung und Nutzung der personenbezogenen Daten des ehemaligen MfS/AfNS gerne mit in den Einigungsvertrag eingebracht hätte - nur sei es in Bonn nicht durchsetzbar gewesen.

Könnte vor dem Beitritt der DDR das Thema Stasi-Akten zu solch einem Politikum werden, dass die DDR-Seite sich doch durchsetzt?

Das hoffe ich. Wir haben noch vier Wochen Zeit. Der Start mit der Besetzung war nicht schlecht und hat ziemlichen Staub aufgewirbelt.

Die Forderung der Besetzer und der Fraktionen der Volkskammer stehen dem Willen der Bundesregierung diametral gegenüber. Wie könnte ein möglicher Kompromiss aussehen?

Das Gesetz ist sehr detailliert von dem Ausschuss der Volkskammer ausgearbeitet worden. Ich halte das für unmöglich, dass mit ein paar dahingewischten Bemerkungen aus Bonn bessere Lösungen kommen könnten, dass ist unsere schmutzige Wäsche und unser Mief - den müssen wir selber ausräumen.

Was soll mit den Akten geschehen, wenn sie tatsächlich den DDR-Ländern unterstellt würden?

Das ist in diesem Gesetz geregelt. Es geht um die politische, historische und juristische Aufarbeitung der Stasi-Tätigkeit, um den Schutz des Einzelnen, es geht um Rehabilitierung der Betroffenen, es geht um Beweismittel in Strafverfahren. Es geht auch um parlamentarische Kontrolle, denn es sind keine Daten im Sinne des Datenschutzgesetzes, sondern total zu Unrecht erworbene Daten. Die kann man nicht behandeln wie das Ergebnis einer Volkszählung.

Die Besetzer wollen erst die Stasi-Zentrale verlassen, wenn ihren Forderungen zugestimmt wird. Müssen sie bis zum Beitritt ausharren?

Es gibt kein hinreichenden Grund, warum die Bundesregierung nicht nachgeben sollte. Es ist weder mit rechtlichen noch mit politischen Argumenten zu erklären, wieso das Stasi-Archiv in die Hoheit der Bundesregierung gelangen soll. Es wird ja keine andere Begründung gegeben, als das Material zentral verwalten zu wollen. Ich habe aber den Verdacht, das ganz andere Motive dahinter stecken. Denn das ist ein einmaliges Material für Gesinnungsüberprüfungen und für nachrichtendienstliche Ermittlungen. Wenn die Stasi-Akten für die Überprüfungen von Staatsangestellten bei der Übernahme in den öffentlichen Dienst genutzt werden sollen, ist das eine Vergewaltigung der Volkskammer.

Interview: Dirk Wildt

aus: taz Nr. 3203 vom 06.09.1990

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