Gespräch mit Günter T(...), Martina und Dieter H(...), Neues Forum

Im Betrieb ist die Arbeit das Wichtigste

Am 17. November 1989 fand eine Zusammenkunft des Betriebsdirektors mit Vertretern und Sympathisanten des Neuen Forums aus unserem Betrieb statt. Wie schätzen Sie diese ein?

Günter T(...): Ich fand es gut, dass uns der Betriebsdirektor eingeladen hat und diese erste Kontaktaufnahme, wenn auch recht spät, möglich machte.

Dieter H(...): Ich kann nur sagen, endlich ist dieser Meinungsaustausch zustande gekommen. Uns kommt es so vor, als würde in diesem Betrieb beim Betriebseingang ein Stopp für die Probleme der Zeit sein.

Welche Ergebnisse hatte die Zusammenkunft?

Günter T(...): Konkrete Ergebnisse waren nicht Sinn und Zweck der Sache. Wir haben beiderseitig unsere Positionen dargelegt.

Dieter H(...): Wir erhielten Informationen über wirtschaftliche Probleme und das Betriebsgeschehen, einschließlich Arbeits- und Lebensbedingungen und hatten Gelegenheit, unsere Vorstellungen und Vorschläge zu unterbreiten wie Mitarbeit beim Umweltschutz oder Unterstützung einer Brigadearbeit ohne Punktehascherei.

Wie bewerten Sie die Teilnahme des Parteisekretärs?

Dieter H(...): Seine Anwesenheit war gut, obgleich er mehr als Zuhörer teilnahm.

Welche Haltung haben Sie zu Mitgliedern der SED?

Günter T(...): Meine Haltung zu den Genossen im Kollektiv ist unverändert. Ich gehe davon aus, dass sie nicht schuld an der entstandenen Lege sind. Sie müssen die größere Enttäuschung ertragen. Im Neuen Forum kann jeder mitarbeiten, ob er parteilos, Mitglied der SED oder einer anderen Partei ist. Man soll Leute an ihren Taten messen.

Dieter H(...): Ich unterhalte mich mit jedem Betriebsangehörigen, selbstverständlich auch mit Genossen. Aber die Genossen müssen umdenken lernen. Viele sind ihnen gegenüber misstrauisch.

Martina H(...): Anfangs gab es in meinem Kollektiv eine Kontrastellung. Wir sollten versuchen, diese zu beseitigen, jeder muss die Meinung des anderen akzeptieren lernen.

Warum fordert das Neue Forum "Partei raus aus dem Betrieb"?

Günter T(...): Im Betrieb muss gearbeitet werden, das ist das wichtigste. Die Partei hat in die Belange des Betriebes nicht hineinzureden. Das ist Sache des Betriebsdirektors. Was bleiben muss, ist die Gewerkschaft, aber als wirklicher Vertreter der Arbeiter.

Martina H(...): Der moralische Schaden, den die SED angerichtet hat, ist viel größer, als wir annehmen. Die SED muss sich als gleichberechtigte Partei auffassen und darf keine Sonderrechte in Anspruch nehmen.

Dieter H(...): Der im DDR Verfassung Artikel 1Artikel 1 der Verfassung festgeschriebene Führungsanspruch der SED ist gestrichen worden. Damit erhält die SED gleiche Rechte und Mittel wie die Blockparteien, die auch nicht hauptamtlich im Betrieb wirken. Wie viele Arbeitskräfte würde die Volkswirtschaft erhalten, wie viele Räume würden freigezogen und wie viel Arbeitszeit würde frei, wenn die Partei ihren Apparat verkleinert.

Wie soll das Neue Forum im Betrieb wirken?

Dieter H(...): Auf Grund des breiten Interesses macht es sich erforderlich, in den Wohngebieten als auch in den Betrieben Basisgruppen aufzubauen. Die Gründungsveranstaltung für die Basisgruppe Weba war am 28. 11. 1989. Die geringe Teilnahme hier enttäuschte uns allerdings. Wir könnten uns vorstellen, dass ein Teil dieser Gruppe als Oppositionsgruppe arbeitet, die Mängel und Fehler im Betrieb anspricht und verändern hilft. Ein anderer Teil der Gruppe könnte eine Art "grüne Gruppe" sein. Wir wollen eigentlich nichts vorgeben, jeder kann sich nach seinen Interessen in die Arbeit einreihen, die natürlich nach Arbeitsschluss stattfindet.

Günter T(...): Das ist nur ein vorläufiges Gerüst. Denkbar wäre auch eine Gruppe, die sich mit Arbeitsdisziplin befasst, allerdings nicht mit "5 Minuten eher gehen". Generell wollen wir Veränderung, und dabei müssen wir in die Breite kommen.

Warum engagieren Sie sich persönlich für das Neue Forum?

Günter T(...): Viele Fragen bewegen einen, z. B. was ist aus dem Geld geworden, was wir miterarbeitet haben? Wir haben beim Aufbau mitgeholfen und stehen nun vor dem Scherbenhaufen. Jetzt fangen wir das zweite Mal an und wissen, dass wir auch weiterhin viel arbeiten müssen, wenn es uns besser gehen soll. Aber für gute Leistung muss man sich endlich auch etwas leisten können. Sicher sind unsere Sozialmaßnahmen gut. Keiner hungert. Brot habe ich aber am Aufstrich fehlt es. Ich arbeite auch deshalb im Neuen Forum mit, damit die Ausreisewelle aufhört, mir wird da himmelangst. Und ich möchte keinen Kapitalismus, sondern einen besseren Sozialismus. Als Elektriker hier im Betrieb, wo ich vor 30 Jahren meine Arbeit aufnahm, will ich das Beste tun. Die Staatsform in der BRD ist mir zu kalt, nicht menschlich genug.

Dieter H(...) (seit 24 Jahren im Webstuhlbau, Leiter TGG): Ich bin gegen das kapitalistische System und für einen demokratischen Sozialismus. Deshalb stelle ich mich hinter meine Sache. Jahrelang durften wir unsere Meinung nicht äußern. Jetzt ist das endlich vorbei. Ich bin dafür, dass wir in freien und geheimen Wahlen eine Regierung an die Macht stellen, die unsere Interessen vertritt und verwirklicht.

Martina H(...) (seit 21 Jahren im Betrieb, Köchin): Wir wollen das Gute. Wir wollen hier bleiben, und wir wollen vor allem, dass unsere Kinder nicht abhauen. Das ist das Entscheidende. Deshalb arbeiten wir im Neuen Forum, mit dessen Zielen wir einverstanden sind. Zu den Demos sehen wir viele Webstuhlbauer, und die Demos wird es so lange geben, bis unsere Forderungen erreicht sind. In vielen Menschen steckt aber noch Angst. Und im Moment wird nur eine Hinhaltetaktik betrieben.

Die Redaktion bedankt sich für die Beantwortung der Fragen.

Nachgefragt
Inzwischen kam es am 4.12. erneut zu einem Gespräch zwischen Betriebsdirektor und Mitgliedern des Neuen Forums. Wie D(...) H(...) informierte, ging es um betriebliche Probleme wie die Auflösung der hauptamtlichen Leitungen der SED und FDJ, die Auflösung der Kampfgruppe und die Nutzung ihrer Umkleidekammer für die Erweiterung der Hauptgarderobe Gebäude 40. Kollege H(...) betonte, dass der ursprünglich geplante Streik nicht aufgehoben, sondern ausgesetzt sei und als letztes Mittel zur gewaltlosen Durchsetzung der Forderungen des Neuen Forums und anderer Basisgruppen bleibt.

aus: Weba-Kollektiv, Nr. 12/1989, Dezember-Ausgabe, 32. Jahrgang, Organ der SED-Betriebsparteiorganisation des VEB Webstuhlbau Karl-Marx-Stadt, Herausgeber: SED-Betriebsparteiorganisation des VEB Webstuhlbau Karl-Marx-Stadt


13 Personen gegründeten am 28.11.1989 die Betriebsgruppe Weba. Zum Sprecher wurde D(...) H(...) bestimmt.
Ein Mitglied des Sprecherrates des Neue Forum des Bezirkes Karl-Marx-Stadt rief für den 06.12.1989 zu einem Generalstreik auf, der aber nicht durchgeführt wurde. Die anderen Mitglieder distanzierten sich einen Tag später von dem Aufruf. Der Aufruf löste gehörigen Wirbel aus. Streiks in der damaligen Situation wurden weitestgehend abgelehnt. Das Neue Forum Plauen unterstützte den Aufruf zu einem Streik in Plauen am 06.12.


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