Offene Antwort von Gregor Gysi an Bärbel Bohley und Katja Havemann

Sorge, dass Humanismus vernachlässigt werden könnte

PDS-Vorsitzender Gregor Gysi übermittelte der Redaktion "Neues Deutschland " seine offene Antwort auf den Brief von Bärbel Bohley und Katja Havemann, den wir am Montag veröffentlicht hatten.

Sehr geehrte Bärbel Bohley, sehr geehrte Katja Havemann,

lassen Sie mich zunächst meinen Respekt dafür zum Ausdruck bringen, dass Sie auch in dieser Phase der Geschichte unseres Landes bereit sind, sich für schwach Gewordene einzusetzen, offen unpopulistische Forderungen zu erheben. Jeder Gedanke von Rache oder Vergeltung liegt Ihnen offensichtlich fern. Ihr Brief ist für mich von tiefem Humanismus geprägt.

Trotzdem will ich mich auch mit einigen Passagen kritisch auseinandersetzen. Meines Erachtens trägt nämlich jede undifferenzierte Beurteilung von Vorgängen dazu bei, undifferenzierte Verurteilung oder Vorverurteilungen zu provozieren. Sie schreiben, dass die Partei, gemeint ist die SED, "über viele Jahre Unrecht zu Recht erklärt hat". In Wirklichkeit gab es nie "die Partei", sondern über zwei Millionen Mitglieder. Nur wenige von ihnen waren an dem beteiligt, was Sie kritisieren. Schuld und Verantwortung sind immer individuell. Auch der Vorgang selbst wird mir viel zu undifferenziert dargestellt.

Tausende von Urteilen im Zivilrecht, im Familienrecht, im Arbeitsrecht und auch im Strafrecht waren Recht und nicht Unrecht. Eine Ausnahme bildet das politische Strafrecht, bei dem allerdings berücksichtigt werden muss, dass es während der fünfziger Jahre im kalten Krieg entstand. Scharf zu verurteilen ist sein Ausbau und zu einem beachtlichen Teil die Art und Weise seiner Anwendung schon in den fünfziger Jahren, vor allem aber nach 1961. Nur eine solche differenzierte Beurteilung ist für die Schaffung eines Gerechtigkeitsgefühls geeignet.

Unverständlich ist mir auch Ihr Zweifel, ob sich die Partei erneuert hat. Jedem unvoreingenommenen Beobachter muss auffallen, dass die Partei des Demokratischen Sozialismus von ihrer Programmatik, von ihrem Statut, von ihrer Mitgliederstruktur, von ihren neuen ökonomischen und finanziellen Bedingungen her nicht mehr mit der SED zu vergleichen ist. Die Trennung von Partei und Staat ist fast vollständig vollzogen, und die PDS besitzt kein Machtmonopol mehr. Von der früheren Alleinherrschaft ist nichts geblieben. Sie ordnet sich demokratisch in das Parteienspektrum ein und unterbreitet Politikangebote, die zum Teil von den Massenmedien weniger Beachtung finden als Politikangebote anderer Parteien und Bewegungen.

Der Mangel an menschlichem Miteinander hat seine Ursachen sicherlich in der Geschichte des Landes, aber bestimmt nicht in der Wirkungsweise der Partei des Demokratischen Sozialismus. Die Mitglieder dieser Partei sind verschärften Angriffen ausgesetzt, sie bilden insoweit eine notwendige Solidargemeinschaft. Sie haben sich trotz der stalinistischen Geschichte nicht von sozialistischen Idealen abbringen lassen. Allein die Tatsache, dass es heute so wenig lukrativ ist, Mitglied dieser Partei zu sein, verdeutlicht und erzwingt den neuen Charakter dieser Partei.

Sie wenden sich in Ihrem offenen Brief gegen jede Form von Vorverurteilung und nehmen sie dann gleich gegen zwei Personen (Schnitzler und Wolf - die Red.) selbst vor. Hinsichtlich der ersten Person gibt es bezüglich der politischen Beurteilung zwischen uns sicherlich keinen Unterschied. Aber auch in seinem Fall bin ich dagegen, politisches Wirken, auch wenn es als falsch und schädlich erkannt wird, zu kriminalisieren. Hinsichtlich der zweiten Person gehen unsere Auffassungen offensichtlich auseinander. Sein früheres Wirken war stets nach außen bestimmt und hatte mit Machtmissbrauch nach innen nach meiner Kenntnis nichts zu tun. Die Tätigkeit nach außen ist international üblich und war in der Vergangenheit sicherlich notwendig. Auch hier ist zwischen Geschichtsaufbereitung und strafrechtlicher Würdigung gründlichst zu unterscheiden.

Untersuchungshaft ist keine Vorverurteilung, sondern dient der Durchführung eines Strafverfahrens. Sie darf nur dann angeordnet werden, wenn dies unumgänglich ist und gesetzliche Haftgründe vorliegen. So wie früher bin ich auch heute dagegen, Untersuchungshaft anzuordnen, wenn sie nicht zwingend erforderlich ist.

Hinsichtlich Ihres eigentlichen Anliegens stimme ich Ihnen also zu. Auch ich mache mir Sorgen, dass humanistische Kriterien vernachlässigt werden könnten. Kriminelles Verhalten muss strafrechtliche Verurteilung nach sich ziehen, unabhängig von der Person und ihrer früheren Funktion. Aber auch hier gilt, dass politisch fehlerhaftes Wirken nicht nachträglich kriminalisiert werden darf. Sie wissen, dass ich sehr für die Unabhängigkeit der Justiz eintrete. Die Stärke einer Justiz muss sich darin zeigen, dass sie sich weder dem Druck einer Partei noch dem Druck der Straße und auch nicht dem Druck eines berechtigten Volkszorns beugt.

Ihr Brief zeigt jedoch, dass bestimmte Veränderungen in diesem Lande nicht deutlich geworden sind. Als ich Vorsitzender der PDS wurde, habe ich mir vorgenommen, frühere Fehler der SED nicht zu wiederholen. Deshalb habe ich mich auch zu keinem Zeitpunkt in Angelegenheiten der Justiz eingemischt. Die Mitarbeiter der Justiz würden eine solche Einmischung wohl auch nicht mehr zulassen. Es klingt vielleicht nicht glaubwürdig, ist aber die reine Wahrheit, ich hatte in meiner Tätigkeit als Rechtsanwalt mehr "Einfluss " auf die Justiz als heute in meiner Eigenschaft als Parteivorsitzender. Deshalb wäre Ihr Brief besser an den Generalstaatsanwalt der DDR adressiert worden. Außerdem bringen Sie mich in eine schwierige Situation. Appelliere ich in Ihrem Sinne und zeigt dies Wirkung, konnte mir und meiner Partei leicht unterstellt werden, frühere Mechanismen noch zu besitzen und zu nutzen. Schon zur Vermeidung eines solchen Eindruckes könnte mein Appell genau die gegenteilige Wirkung auslösen. Damit wäre Ihrem, besser gesagt unserem menschlichen Anliegen nicht gedient.

Aber Sie haben mein Anwaltsherz angesprochen, und dies zeigt natürlich bei mir Wirkung. Deshalb diese Antwort, mit der ich deutlich meine Auffassung zu Humanismus und Rechtsstaatlichkeit versucht habe zum Ausdruck zu bringen, vor allem eben als Rechtsanwalt.

aus: Neues Deutschland, 45. Jahrgang, Ausgabe 44, 21.02.1990. Die Redaktion wurde 1956 und 1986 mit dem Karl-Marx-Orden und 1971 mit dem Vaterländischen Verdienstorden in Gold ausgezeichnet.

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