Nochmals zur Parteienfrage

Die Basisgruppe Waren/Müritz des Neuen Forums richtete an alle Basisgruppen einen Brief, in dem mit Nachdruck gefordert wird, dass sich das Neue Forum zur Partei profiliert. Im folgenden antwortet darauf Dr. Martin, Böttger, Mitglied des Sprecherrates im Bezirk Karl-Marx-Stadt:

Liebe Freunde aus Waren!

Euer "Aufruf in eigener Sache" vom 27.11.1989 hat mir sehr zu denken gegeben. Einige Eurer Bedenken kann ich mittragen (z.B., dass sich durch Zweitmitgliedschaften Parteien in der Volkskammer verschleierte Mehrheiten verschaffen können, was die SED ja bisher praktizierte), andere dagegen nicht. Zum Beispiel sehe ich dadurch, dass wir keine Partei werden, nicht die Koalitionsfähigkeit der Opposition in Frage gestellt.

Aber gehen wir der Reihe nach vor. Ich versuche zu systematisieren, indem ich für das zu schaffende Wahlgesetz im wesentlichen zwei Möglichkeiten sehe:

a) Das Wahlgesetz erlaubt neben Parteien auch gesellschaftlichen Organisationen (selbstverständlich mit politischer Programmatik, andere würden nicht gewählt), Kandidaten für die Wahl zu nominieren (siehe z.B. der Vorschlag eines Wahlgesetzes der Gruppe PRO aus Berlin-Oberschöneweide). In diesem Fall müsste gesetzlich ausgeschlossen werden, dass ein Kandidat von einer Partei oder Organisation, die am Wahlkampf teilnimmt (im Folgenden kurz Mandatsträger genannt) nominiert werden kann, der Mitglied eines anderen Mandatsträgers ist. Denn durch Doppelmitgliedschaft in konkurrierenden Mandatsträgern könnte der Wähler getäuscht werden. Die bloße Verpflichtung des Kandidaten, nur das Programm des Mandatsträgers, der ihn zur Wahl vorschlug, zu vertreten und nicht das des anderen Mandatsträgers, dem er auch angehört, reicht meiner Meinung nach nicht aus. Über dieses Problem gibt es übrigens einen Streit in der Karl-Marx-Städter Sprechergruppe.

b) Das Wahlgesetz gestattet nur Parteien, an der Wahl teilzunehmen. Damit entfiele die obige Klausel, weil man nicht gleichzeitig mehreren Parteien angehören kann. Nichts würde aber in diesem Fall dagegen sprechen, dass auch Parteilose für das Programm einer Partei kandidieren und dies möglicherweise durch Organisationen unterstützt wird (wie ja auch in der Variante a) Parteilose kandidieren können). Für welche der beiden Varianten die Bevölkerung sich entscheiden würde, falls es zu einer Volksabstimmung käme, weiß ich nicht. Für das Neue Forum ergäben sich folgende Konsequenzen:

Im Falle a) könnten wir unmittelbar ein Wahlkampf teilnehmen. Wir müssten aber mit einem Wahlprogramm einsteigen, das sich wenigstens in einigen Fragen von den Programmen der neuen Parteien (Demokratischer Aufbruch, SDP, Grüne) unterschiede. Da es jedoch über die Form der gesellschaftlichen Erneuerung in der DDR keine allzu großen Differenzen geben dürfte, wären Wahlbündnisse oder gar Koalitionsabsprachen angebracht. Also müsste verhandelt werden. Direkte Verhandlungen beispielsweise zwischen Neuem Forum und SDP wären aber schwierig, weil diese Partei ja einen Teil ihrer Mitglieder unter uns hat.

Im Falle b) stünden wir vor der Frage, die Ihr in Eurem Papier aufwerft: Profilierung zu einer neuen Partei. Da aber dann von den bis jetzt mir bekannten drei neuen Parteien sich höchstwahrscheinlich keine mit uns zu einer Partei vereinigen würde, gäbe es dann mindestens vier neue Parteien. Ich sehe aber in unserer Parteienlandschaft keine so große Lücke, die die Neugründung einer Partei aus unserem Potential rechtfertigen würde. Nur unsere große Zahl kann ich als Argument für Partei nicht akzeptieren. Einziges Argument wäre das Vertrauen der Bevölkerung, das wir durch unsere Massenaktionen auf der Straße erworben haben.

Egal wie das neue Wahlgesetz ausfällt, wir sollten uns schleunigst uns unser Verhältnis zu den neuen Parteien bemühen, deren Mitglieder sich ja zu einem Teil bei uns eingeschrieben haben. Es arbeitet zwar auch einige Mitglieder "alter" Parteien bei uns mit, deren Umdenkungsprozess für uns nicht uninteressant ist. (Nebenbei bemerkt: Vor einer Unterwanderung durch SED-Mitglieder habe ich im Gegensatz zu Euch überhaupt keine Angst.) Unser großes Interesse sollte aber den neuen Parteien gelten. Wir sollten unsere vielen Möglichkeiten, die sie nicht bzw. noch nicht haben, nutzen, um ihnen Gelegenheit zu öffentlicher Profilierung, aber auch zur Auseinandersetzung mit unseren kritischen Fragen zu geben. Ich denke dabei an die Nutzung unserer großen Räumlichkeiten, unserer Büros, der Medien usw. Damit lernen wir nicht nur das Programm der jeweiligen Partei, die wir in unsere Räume einladen, besser kennen, sondern wir beeinflussen auch ihr Programm. In diesem Prozess des wechselseitigen Gebens und Nehmens werden sich wahrscheinlich viele unserer Mitglieder für die eine oder andere Partei entscheiden. Das kann entweder durch direkte Mitgliedschaft oder durch aktive Beteiligung am Wahlkampf dieser Partei geschehen. Da die Programme der oben genannten drei Parteien keine sehr großen Unterschiede aufweisen, wären sie gewiss koalitionsfähig. Ein etwaiges Wahlbündnis könnte durchaus von uns organisiert werden. Wir könnten sogar unseren Namen für dieses Bündnis hergeben.

Über den Wahlkampf hinaus sollten wir uns aber vorrangig um den Aufbau einer menschlicheren Gesellschaft bemühen. Unsere spezifischen Formen dabei sind nach wie vor Demonstrationen, Kundgebungen, aber auch Blockaden, Sitzstreiks und andere Formen öffentlicher Willensbekundungen.

Martin Böttger

Aus: Forum des Neuen Forum, freie presse, Nr. 290, 09.12.1989, 27. Jahrgang, Tageszeitung der SED für den Bezirk Karl-Marx-Stadt

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