Interview mit Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley, Mitbesetzerin des Zentralarchivs der Stasi

Morgen: Bleiben die Besetzer weiter bei ihrer Forderung: Jedem seine Akte, oder sind sie inzwischen auch kompromissbereit?

Bohley: Ein Sicherheitsdienst, ein Geheimdienst ist erst dann aufgelöst, wenn die Betroffenen ihre Akten bekommen, und im Gegensatz zu Herrn de Maizière und Herrn Diestel und allen Politikern sind wir der Meinung, dass es keinen "Mord und Totschlag" geben wird, dass die Menschen mindestens genauso klug sind wie Herr de Maizière und Herr Diestel, und dass die Menschen Aufklärung über die Vergangenheit und ihre Geschichte haben wollen. Der DDR-Bürger ist kein mordrünstiges Wesen, das mit dem Messer in der Tasche herumläuft und alle Spitzel absticht. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass nichts passiert ist. Es sind ja Stasi-Mitarbeiter schon enttarnt worden, und die laufen nach wie vor frei herum ...

Morgen: Die personenbezogenen Akten enthalten doch teilweise detaillierte und sehr intime Aussagen über die Betroffenen, sicher auch erpresste oder fingierte Aussagen von Familienmitgliedern oder engen Bekannten und Freunden. Ist da die Befürchtung Lothar de Maizières, die Offenlegung dieser Akten könne in der Bevölkerung "Mord und Totschlag" auslösen, nicht auch berechtigt?

Bohley: Ich würde sagen, der innere Friede ist gestört, solange es keine Klarheit gibt. Klarheit geben die Akten. Sie liefern erst die Beweise, um beispielsweise Anträge auf Rehabilitierung der Opfer zu stellen. Viele Menschen wissen ja gar nicht, wie der Knick in ihrer Biografie zustande gekommen ist. Sie sind irgendwann einmal abgelehnt worden, wenn sie sich zum Studium oder um einen Arbeitsplatz beworben haben. Erst wenn ich weiß, wer im Dunkelbereich Staatssicherheit etwas gegen mich ausgeheckt hat, kann ich mich dagegen wehren und kann Rehabilitierung fordern. Ich halte die Menschen für fähig, mit dieser Klarheit umzugehen. Die einzigen, die wirklich mit der Vergangenheit nicht umgehen können, sind scheinbar die Täter: Sie müssen endlich eingestehen, was sie verbrochen haben und welche Schuld sie tragen. Eigentlich werden die Täter geschützt, die Opfer bleiben Opfer...

Morgen: Was sollte Ihrer Meinung nach mit den Tätern geschehen?

Bohley: Ich möchte, dass mit den Tätern nichts geschieht, aber ich möchte auch nicht, dass diese Täter in der nächsten Zeit Verantwortung in der Politik, in der Wirtschaft, in der Kultur haben. Sie sollen das wiedergutmachen, was sie verbrochen haben, aber nicht in politisch verantwortlichen Stellen. Ich würde sagen, sie könnten da bleiben, wenn sie wirklich bereit wären, über ihre Arbeit Auskunft zu geben. Aber nicht ein einziger von den über 50 Abgeordneten ist aufgestanden und hat gesagt: Ich war Mitarbeiter oder ich habe Informationen weitergegeben und sehe heute ein, es war ein Fehler. Ich glaube, jemand, der sich so verhalten hätte, hätte auch die Chance bekommen, dazubleiben. Aber das sind ja alles U-Boote und die müssen einfach ans Licht.

Das Gespräch führte Stephan Wiehler

aus: Der Morgen vom 20.09.1990