ZUR BESINNUNG

Es gab eine Zeit - sie ist schon historisch - da standen wir vor der Mauer; fernwehkrank, sprachlos Entmündigte - eingesperrt im eigenen Land durch eine ungeliebte Regierung!

Bis sich das Volk verzweifelt auf den Weg machte, einen Ausgang im Nachbarland erzwingend - dann - gewaltfrei aus den Kirchen strömend - voller Angst, aber im Bewusstsein

"Wir bleiben hier! Wir sind das Volk!"

zogen wir, Kerzen in den Händen haltend, durch dunkle Straßen - bedroht aber siegreich - vor den Blicken der Weltöffentlichkeit und sie riefen:

Seht hin! Auf deutschem Boden beginnt das Volk eine friedliche

Revolution!

Wir haben die Pyramide zum wanken gebracht bis der erste Stein fiel, zu Boden stürzend, andere mit sich riss!

Was wir nur zu träumen wagten, geschah fast über Nacht; die MAUER zerbrach!

Und wieder strömte das Volk auf nie betretene prachtfunklende Straßen jubelnd - bejubelt - ein Wahnsinn! rufend, sich im Glücksrausch verlierend!

Täglich ergießen sich nun Menschenströme - Geldströme - Wertströme! Wir sehen wieder, im unbestechlichen Auge internationaler Kameras:

- Menschen stürmen Züge - auf den Beinsteigen bleiben zurück:

die  A l t e n,  S c h w a c h e n  und K i n d e r!

- Menschen schieben sich Tuch an Tuch durch die Hallen überströmender Wohlstands:

Billigware liegt aus - der Abraum des Wohlstands -

sie greifen, schieben, drängen!

- Blechkarawanen verstopfen die Straßen, Abgaswolken - Sympathietöter durchsetzen die Luft

Ein toller Tag: doch wir kehren zurück.

Wie nüchtern ist die Bilanz?

1 000 M Ost, dafür 100 M West - ein Taschengeld dort, gerade genug das Billigste vom Billigen zu kaufen.

Hier aber: der Gegenwert für einen Monat harte Arbeit, einen Teil unserer Kraft, unserer Intelligenz, unseres Leben!

Sind wir das auch? Welch eine Schizophrenie! Ein katastrophaler Umbruch aller Werte!

Doch unser Geld, das wir dort ließen - es kehrt zurück und unsere Läden leeren sich. Wir werden eingekauft!

Nicht lange - dann beginnt in versiegelten Räumen Maschinen zu rotieren. Sie drucken Geld - Geld - Geld! Das Karussell es dreht sich, auf ihm sitzt die Inflation - Wer hält es an?!

Noch halten wir einen Zipfel Sozialismus in den Händen - einen Raum für Utopia - wo ein freies Volk auf freiem Grund den Morast, der die Luft verpestet, trocken legt. Vertun wir nicht diese Chance!

Bedenken wir einen Mythos, alt wie die Menschheit:

Es gibt immer einen Mann, den Menschen, der für ein Linsengericht sein Recht, seinen Stolz verkauft.

Beenden wir diesen, unseren schizophrenen Zustand!

Es ist an der Zeit auch an uns Forderungen zu stellen:

- Wehren wir uns mit der ganzen Kraft unseres Gewissens dagegen:

das aus uns, dem Volk das eine friedliche Revolution begann, dem die Achtung der Welt gehört,

ein Volk von Schiebern und Spekulanten wird!

- Zerstören wir nicht, was wir uns erkämpften: Selbstbewusstsein und unseren guten Ruf!

Bedenkt, wenn ihr in der Suppenküchen der Gastfreundschaft esst, dass jeder 3. Gast ein Bürger der BRD ist, der obdachlos, arbeitslos am Rande der Gesellschaft lebt (ZDF).

Bei uns gibt es noch keine Suppenküchen. Sorgen wir dafür, dass es sie n i e gibt!

Wir halten nichts davon, hier bekrenzt zu sein, aber noch weniger wollen wir im Wahlkampf der BRD verkohlt werden! Wir werden missbraucht!

- Wir fordern von beiden deutschen Regierungen gemeinsame Aktionen, die unsere Bürger aus den jetzt bestehenden Armenstatus im Gastland herausheben, sie befähigen, sich frei zu bewegen, ohne in Konflikt mit bestehenden Gesetzen zu geraten.

- Noch eines zu Bedenken:

Zügel, die wir uns nicht selbst anlegen, die legt uns die Regierung an.
Vielleicht werden sie schmerzhaft sein!

gez. Maria  B(...)
Neues Forum
Rostock - Land

Groß Lüsewitz, den 22.11.1989

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