Parteien sind blöd

Als uns am 22. Mai im Berliner "Haus der Demokratie" der Bundesvorstand der Grünen/West die Ehre gab, konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, soeben die Bekanntschaft mit Kohls Landsturm gemacht zu haben. Er, der Bundesvorstand, kam, sah, und belehrte. Die armen, dummen Ostler bekamen zu hören, dass es nur drei Möglichkeiten gäbe; Politik zu machen: in kleinen Zirkeln, in Bürgerinitiativen oder in Parteien. Die letzte sei die einzige wirksame. Diskussionen um andere Formen von Demokratie, wie wir in unseren Bürgerbewegungen, hätten sie schon 1977 geführt und unsere Argumente wären zu moralisch. (Sozialdemokratie, ick hör dir trapsen.)

Nach der alten Manier linker Wahrsagerei sagte uns der Bundesvorstand die Zukunft voraus, die nur in unserem Niedergang bestehen könne, da wir nach bundesrepublikanischem Recht zur ersten gesamtdeutschen Wahl nicht zugelassen sein werden. Also hätten wir nur die Alternative, mit ihnen zu fusionieren oder Listenplätze von ihnen anzunehmen. Die Zeit dränge und die 5 %-Klausel sitze im Nacken. Diese war anscheinend der Grund, weshalb der Bundesvorstand erstmals und fast vollzählig nach der Öffnung der Mauer erschienen war. Denn die Aussichten der Westgrünen sind alles andere als rosig. Ihre Anziehungskraft schwindet, die Strömungskämpfe sind nervend und verschleißen; die Konzeptionslosigkeit fraktionsübergreifend.

Trotz der Ermüdungserscheinungen nach zwei Wahlkämpfen und dem Gefühl, von der Entwicklung überholt zu werden bzw. machtlos daneben zu stehen, muss jetzt im NEUEN FORUM und in den anderen Bürgerbewegungen die Diskussion über die programmatische Neuorientierung beginnen. Wir haben Formen der Demokratie entwickelt und erkämpft, die nicht auf dem Altar der Parteistrategen geopfert werden dürfen. Es geht uns um Politik mit den Betroffenen und nicht für sie, denn wir agieren als Betroffene und nicht als Parlamentarier, die sich am Ende als Feigenblatt für eine Politik vorbei an den Interessen der Bürger und Bürgerinnen hergeben. Unsere Abgeordneten sollen nicht stellvertretend an sie delegierte Verantwortung wahrnehmen, sie sollen unsere Interessen auf parlamentarischer Ebene einbringen und trotzdem mit uns auf außerparlamentarischem Wege kämpfen. Letzteres scheint bei der Grünen Partei (West) völlig aus dem Blick.

Es geht uns weiterhin um den mündigen Bürger, der sich einmischt. Es geht um das Aufbrechen der Sprachlosigkeit, die schon wieder um sich greift. Es geht uns um die Überwindung der Gräben zwischen den Menschen, die durch die Parteien schon wieder tiefer und tiefer gezogen werden. Deshalb sind wir nicht links, nicht rechts, nicht grün, sondern wir kommen von unten.

Reinhard Schult

aus: Stachlige Argumente, Nr. 63, Juli 90, Zeitschrift der Alternativen Liste, Herausgeber: Alternative Liste für Demokratie und Umweltschutz

Der Kommentar wurde bereits am 01.06.1990 in "Die Andere Zeitung" Nr. 19 veröffentlicht.

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