DER WUNSCHBRIEFKASTEN

oder fiktiver Brief eines Reformers

Liebe Freunde vom Neuen Forum!

Es schreibt Euch ein Anhänger des Fortschritts, der Wende und des neuen Denkens. Ich möchte Euch aufrichtigen Herzens für alles bisher Geleistete danken. Ihr könnt stolz auf Euch sein, denn Ihr habt Euren Teil zur Umgestaltung beigetragen, habt die Leute auf die Straße geschubst, die Funktionäre gewendet und doch auch schon ein Großteil Demokratie erkämpft. Aber nun lasst's bitte gut sein. Macht um Himmels willen nichts kaputt. Kocht doch Euer Süppchen nicht für Euch, sondern reiht Euch ein in die Schlange der geduldig und friedlich auf Veränderung Wartenden. Was wollt Ihr jetzt noch verändern - alles ist doch schon in die Wege geleitet, ins rechte Gleis gerückt; nun braucht's nur noch etwas Zeit zum Wirken. Bedenkt die Gefahren, wenn sich bei Euren Demos unliebsame Elemente einreihen, auf Euren Kundgebungen langhaarige Nichtsnutze redliche Menschen beleidigen, langsam verheilende Wunden wieder aufgerissen werden. Überhaupt muss ich fragen: Mit weichem Recht kann denn bei Euch jeder seine Meinung sagen? Mit welchem Recht, frag ich! Was ist das für ein Verein, wo jeder Trottel aufstehen und blöd daherreden kann? Ja, denkt Ihr ernstlich, das lassen sich die geschulten und in der Praxis erfahrenen Verantwortungsträger auf Dauer gefallen? Was wollt Ihr denn noch, Ihr ewigen Meckerer, Stänkerer, Ihr Ruhestörer ...

Und darum: Schön misstrauisch bleiben! wünscht sich

Heidi M(...) / Neues Forum, parteilos

aus: Forum des Neuen Forum in Freie Presse, 25. 11. 1989, 27. Jahrgang, Organ der Bezirksleitung Karl-Marx-Stadt der SED